
Er ist nicht größer als ein handelsübliches Smartphone und könnte die Forschung in der Humanmedizin revolutionieren. Am Fraunhofer-Instituts für Werkstoff- und Strahltechnik in Dresden haben Wissenschaftler einen Multiorgan-Chip entwickelt. Mit dessen Hilfe kann der Einfluss von Testsubstanzen auf den menschlichen Blutkreislauf untersucht werden. Bislang müssen dafür vor den Studien mit Probanden mehrere Tierversuche angesetzt werden. Dies könnte in naher Zukunft somit überflüssig werden. Auch der Einfluss von Kosmetika wäre künftig auf diese Weise ermittelbar.
Der erste Chip seiner Art
Am 16. Oktober 2018 erhielten Wissenschaftler aus Dresden den “EARTO Innovation Award”, was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Multiorgan-Chip lenkte. Der Preis stammt von der “European Association of Research and Technology Organisation”, einer Non-Profit Organisation. Dieser Anerkennung gingen Jahre der Forschung voraus, denn bis zur Fertigung des ersten Prototypen war viel Arbeit notwendig.
Die Idee dahinter ist so simpel wie genial. Statt den Kreislauf von Tieren für Experimente zu nutzen, kann man menschliche Miniorgane mittels 3D-Drucker erzeugen und sie auf einen Chip aufbringen. Genutzt wird dabei Zellmaterial von Menschen. Dieses wird entweder gespendet oder als “Bioabfall” einer Operation nicht vernichtet, sondern für diesen Testzweck weiter verwendet.
Die 3D-Miniorgane werden auf dem Kunststoffplättchen in einen künstlichen Blutkreislauf eingebunden, der die Realität im menschlichen Körper nachbildet. Werden nun Wirkstoffe über die “Blutbahn” eingebracht, kann über Minuten, Stunden und Tage abgelesen werden, wie ein echtes Organ reagieren würde.
Praxistests zeigen die Nutzbarkeit
Was in der Theorie einfach klingt, erforderte Unmengen an Forschungsarbeit. Der Chip muss nicht nur Raum für das Miniorgan und die Minigefäße bieten, sondern auch für eine kleine Pumpe, die den Herzschlag simuliert und den Fluss der Nährstofflösung steuert. Hinzu kommen die nachempfundenen Gefäßklappen.
Mit ihrer Entwicklung haben die Dresdner Forscher echte Pionierarbeit geleistet. Inzwischen wird sie international aufgegriffen und verfeinert. Es gibt zahlreiche Labortests, die den Multiorgan-Chip samt Mikrofluidsystem auf seine Funktionalität hin untersucht und überarbeitet haben.
Ein großer Vorteil des Chips: Die dreidimensionalen Miniorgane sind lebensfähiger als Zellproben in der klassischen Petrischale. Daher können Forscher bedeutend effizienter damit arbeiten. Der künstliche Kreislauf versorgt den Zellverband mit Nährstoffen.
Doch wie gerechtfertigt ist die Hoffnung, dass damit bisher praktizierte Tierversuche für Medikamentenzulassungen sowie Kosmetika der Vergangenheit angehören werden?
Der Multiorgan-Chip als Ende der Tierversuche?
Das Zusammenspiel aus Organzellen im Verbund und den Funktionselementen für Blutbahnen, Ventile, Anschlüsse und elektronische Ansteuerung bilden das jeweils gewünschte Organ in einem Maßstab von circa eins zu 100.000 ab. Dafür ist es notwendig, das menschliche Gewebe und den Nährstofffluss stark zu vereinfachen. Aus diesem Grund ist es bislang nicht möglich, die Aussagekraft von Tierversuchen zu erreichen.
Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Multiorgan-Chip nicht dennoch das Ende der Tierversuche einläutet. Er ist der erste große Schritt in die angestrebte Richtung.
Der Chip kann beispielsweise bereits dafür sorgen, dass je nach 3D-Miniorgan die Stärke der Blutversorgung angepasst wird. Genau dies geschieht auch im Körper, wenn die Leber bei vielen Toxinen im Körper zeitweise verstärkt arbeiten muss. Und man wird der Tatsache gerecht, dass manche Organe allein aufgrund ihrer Funktion beständig mehr als andere durchblutet sind. Parallele Kanäle im Versuchsaufbau variieren entsprechend die Durchflussmenge. Sogar Herzinfarkte können mit einem Multiorgan-Chip inzwischen getreu simuliert werden. Ein Befehl verriegelt einzelne Ventile und imitiert damit in Echtzeit die Auswirkung eines Gefäßverschlusses.
Die bislang bestehende Machbarkeitsgrenze: Um Tierstudien zu ersetzen, müsste der menschliche Organismus annähernd in seiner Gesamtheit abgebildet werden. Dafür setzen Mediziner in der Forschung voraus, dass mindestens zehn Organabbilder gemeinsam auf einem Chip betrachtet werden. Bislang sind jedoch nur vier gleichzeitig realisierbar.
Prinzipiell wird es jedoch in absehbarer Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit machbar, zehn Miniorgane pro Chip zu untersuchen und so die individuelle Medikation für einen Menschen zu testen. Der Umweg über Tierversuche könnte entfallen.