
Die Behandlung von Suchtkranken ist ein wichtiger Bereich der Medizin. Doch wie heilt man Menschen mit Alkoholabhängigkeit am besten? Und welche neuen Ansätze sind in diesem Fachbereich möglich? Darüber spricht Dr. med. Albrecht Ulmer, Facharzt für Allgemeinmedizin aus Stuttgart und Autor des Fachbuches „Alkoholabhängigkeit anders behandeln? Ansätze zu neuen Hoffnungen“, im Interview mit praktischArzt.
Herr Dr. Ulmer, das Bundesgesundheitsministerium gibt an, dass 6,7 Millionen Deutsche Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren. Etwa 1,6 Millionen Menschen gelten sogar als alkoholabhängig. Wird den Risiken des Alkoholkonsums in unserem Land zu wenig Beachtung geschenkt?
Ja. Die Alkoholindustrie gibt jährlich allein in Deutschland eine halbe Milliarde Euro für Marketingmaßnahmen aus. Das bewirkt eine unglaubliche Schieflage der Risikobewertung im Vergleich zu anderen Suchtstoffen. Die Gefahren des Alkohols werden im Vergleich mit sogenannten „Drogen“ unterbewertet. In der Behandlung von Suchtkranken sehen wir immer wieder, wie die Probleme dann am schlimmsten werden, wenn Alkohol die vorherrschende Droge ist. Alkohol ist toxisch für fast alle Organe und Gewebe, er ist kanzerogen, für Abhängige in der konsumierten Menge schlecht steuerbar, führt zu schweren Persönlichkeitsveränderungen und macht betrunken. Die Lebenserwartung ist bei einer Alkoholanhängigkeit um 20 Jahre verkürzt. Er ist also für eine lang-jährige Abhängigkeit die denkbar ungünstigste Substanz. Wir müssen sagen: Nichts ist schlimmer als Alkohol!
Wie sind Sie als Facharzt für Allgemeinmedizin dazu gekommen, sich so ausführlich mit der Behandlung alkoholkranker Menschen auseinanderzusetzen?
Über zwei Wege. Mich haben immer schon ungelöste Aufgaben besonders beschäftigt und so war mir, wie vielen Kolleginnen und Kollegen, früh aufgefallen, dass wir Alkoholabhängigen kaum etwas anzubieten haben – außer dem Rat, zur Beratungsstelle zu gehen.
Da las ich in einer Zeitschrift, dass ein niedergelassener Kollege Alkoholabhängige in großer Zahl trocken kriegen würde. Ich besuchte ihn und erfuhr, dass er praktisch stationäre Entzugsbehandlungen ins Ambulante übertragen hatte. Das erwies sich dann auch in unserer Praxis in über 1.000 Entzügen als erfolgreich. Weil unsere Praxis sich auch zu einer der größten HIV-Schwerpunktpraxen entwickelt hat, sahen wir uns plötzlich mit dem Schicksal vieler sogenannter Drogenabhängiger konfrontiert und nahmen auch hier unbeschreibliche therapeutische Defizite wahr. Ich gründete mit ein paar Kollegen die Fachgesellschaft, aus der die heutige Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) hervorgegangen ist, war lange in deren Vorstand und hatte damit immer mehr mit Suchtkranken zu tun.
Wie läuft eine herkömmliche Behandlung eines alkoholkranken Menschen ab?
Zunächst rät man, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Diese klärt das weitere Vorgehen. Ist jemand noch nicht so schwer krank, kann es sein, dass er es allein auf der Basis von Ratschlägen schafft, eine weitere Krankheitsentwicklung abzuwenden. Es gibt auch Kursangebote zum Kontrollierten Trinken. Ansonsten werden meist dreimonatige ambulante oder stationäre „Therapien“ vorgeschlagen, die in der Regel als Reha von den Rentenversicherungen bezahlt werden. Diese „Therapien“ müssen alkoholfrei angetreten werden. Deshalb wird häufig eine Entzugsbehandlung vorangestellt. Diese wird auch immer wieder benötigt, wenn es zwischendurch zu Intoxikationen oder zu Komplikationen kommt. Das Gros der Entzugsbehandlungen findet stationär statt. Die Hauptangebote sind also Beratung, Entzug und „Therapie“, sowie als Sonderform Kurse zum Kontrollierten Trinken.
Was war für Sie der grundlegende Gedanke, nach einer neuen Behandlungsweise zu suchen?
Mein Gedanke war es, nicht aufzugeben, nur, weil Behandlungsergebnisse unzureichend sind. Also entschied ich mich, Alkoholabhängige nach den Grundprinzipien der Behandlung von chronischen Krankheiten zu behandeln und nicht völlig anders. Das heißt, ich erkenne den chronischen Charakter der Erkrankung an, biete eine medizinische Dauerbetreuung und sehe eine medikamentöse Einstellung dort als Standard an, wo das mit einer Verbesserung einhergeht. Gleichzeitig gilt es, sich daran zu orientieren, mit der Krankheit so symptomfrei und gesund wie möglich leben zu können. Ich wollte von den Patienten/-innen, Angehörigen und engagierten Kollegen/-innen lernen, auch wenn die wissenschaftliche Sicherung noch lange nicht so weit ist.
Können Sie Ihre Behandlungsmethode für Alkoholabhängigkeit beschreiben und die Besonderheiten hervorheben? Welche positiven Effekte konnten Sie beobachten?
Suchtkrank ist man, weil man etwas braucht. Man kann zwar versuchen, dieses Brauchen wieder abzugewöhnen. Aber mehrheitlich gelingt das nicht oder nicht wirklich überzeugend. Geht die Krankheit also weiter, hat der Alkoholabhängige immer nur wieder den Alkohol.
Fragen wir die Abhängigen, wofür sie den Alkohol brauchen, antworten praktisch alle: Zur Beruhigung, zum Abschalten oder auch zur Stimmungsaufhellung. Dafür gibt es viel bessere Substanzen mit viel weniger Nebenwirkungen. Nur einen Pferdefuß gibt es: Bei falschem Gebrauch können sie gefährlicher als Alkohol sein. Deshalb ist das Gros der Suchtexperten/-innen noch zurückhaltend. Wir müssen gewährleisten, dass die Behandlung nur mit guter Einführung und ständiger Gesprächsbegleitung durchgeführt wird und dass die Patienten/-innen immer schriftliche Einnahmepläne erhalten, um die Medikamente grundsätzlich nach Plan und nicht nach Bedarf einzunehmen. Und natürlich führt kein Weg an wissenschaftlichen Studien vorbei.
Wir haben uns streng an diese Standards gehalten. Durch die medikamentöse Einstellung wurden wir ärztliche Ansprechpartner/innen und langfristige Begleiter/innen für Alkoholabhängige zur Behandlung ihrer Suchtkrankheit. Das ist etwas, wonach viele händeringend suchen. Wir konnten dokumentieren, dass das Gros der Alkoholentzüge hervorragend ambulant funktioniert und dass man Verlauf und Prognose der Abhängigkeit mit einer medikamentösen Einstellung selbst in verzweifelten Fällen noch entscheidend verbessern kann.
Der Gesamteindruck war dem der Standardbehandlung weit überlegen. Also ein dringender Hinweis, diese Ansätze weiterzuentwickeln. Aber wegen der Gefahren bei falschem Gebrauch können solche Verordnungen erst nach wissenschaftlicher Sicherung durch Studien und Standardisierung empfohlen werden.
Wie kam es dazu, dass Sie sich dazu entschieden haben, das Fachbuch „Alkoholabhängigkeit anders behandeln? Ansätze zu neuen Hoffnungen“ zu schreiben?
Die deutsche Fachwelt hat sich bisher noch nicht mit den Möglichkeiten, die sich uns aufgetan haben, befassen wollen. Aber Patienten/-innen, Angehörige und Freunde/-innen drängten mich: Das darf nicht untergehen. So habe ich das zunächst in diesem Buch festgehalten. Es ist kein Lehrbuch, weil es ohne weitere Standardisierung zu gefährlich wäre, es einfach auszuprobieren.
Das vorrangige nächste Ziel ist, dass Studien über die medikamentösen Einstellungen durchgeführt werden, die sich bei uns als so erfolgreich erwiesen haben. Darüber stehe ich mit verschiedenen Universitäten im Gespräch. Aber erst, wenn es geschieht, werden wir wirklich weiterkommen.
Zur Person
Dr. med. Albrecht Ulmer war von 1984 bis 2018 als Allgemeinmediziner in Stuttgart niedergelassen. Seine Schwerpunktthemen waren die HIV- und Suchtmedizin, zunächst für Heroinabhängige, später auch speziell für Alkoholabhängige. Im Oktober 2021 publizierte er das Fachbuch „Alkoholabhängigkeit anders behandeln? Ansätze zu neuen Hoffnungen“.
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