
Nicht nur die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben in den letzten Jahren Ärzten/-innen zugesetzt. Immer mehr werden auch gesellschaftliche und soziale Probleme zu Krisenfeldern, denen sich kaum ein/e Arzt/Ärztin entziehen kann, weder in der Klinik oder Praxis noch privat: Klimakrise, Rassismus, Drogenprobleme unter Kollegen/-innen, Einwanderungspolitik, Impflicht – die Baustellen sind mannigfaltig.
Daher hat der aktuelle „Medscape Report 2022“ (durchgeführt im Zeitraum von Juni bis August 2022) in einer großangelegten Online-Umfrage 905 Ärzte/-innen (60 Prozent Männer, 36 Prozent Frauen, 4 Prozent ohne Angabe) nach ihrer Meinung zu diversen Problemfeldern befragt. Von den befragten Ärzten/-innen war die Mehrzahl über 45 Jahre alt. Darin bewerteten sie diverse Krisenherde und gaben Auskunft darüber, was sie in ihrer Klinik bzw. Praxis oder im Privatleben belastet. Wir haben die Ergebnisse prägnant zusammengefasst.
Gesellschaftliche Probleme
Die absoluten Spitzenthemen, die den befragten Ärzten/-innen Sorgen bereiteten, waren Klimawandel und die abnehmende Qualität in der Gesundheitsversorgung (beide gleichauf mit 76 Prozent). Das ist logisch, denn gerade Ärzte/-innen haben in ihrem beruflichen Umfeld direkt mit beiden Themen zu tun: Der Klimawandel beeinflusst die Gesundheit vieler Patienten/-innen negativ (z.B. zunehmende Asthma-Erkrankungen, Hitzekollapse in überhitzten Sommern, steigende Allergien auf Umweltschadstoffe etc.) und mit der Qualität der Gesundheitsversorgung haben sie ebenfalls zwangsläufig zu tun.
Viele beklagten außerdem die Probleme in der Einwanderungspolitik (49 Prozent) und zunehmenden Rassismus bzw. Diskriminierung (41 Prozent). Aber auch häusliche Gewalt (40 Prozent), Drogenmissbrauch (36 Prozent) und die Impfflicht gegen Covid-19 (35 Prozent) machte vielen zu schaffen. Eher unwichtig waren für die befragten Ärzte/-innen hingegen LGBTQ+ (acht Prozent) und Reproduktionsmedizin (sieben Prozent). Genderfragen liegen mit null Prozent auf einem weit abgeschlagenen letzten Platz.
Gesellschaftliche Probleme im Praxisalltag
Gesellschaftliche Probleme im Praxisalltag wie Rassismus, Sexismus und Drogenmissbrauch wirkten sich nach Aussagen der befragten Ärzte/-innen nur zu 37 Prozent auf ihren Arbeitsalltag aus. Interessant ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass stattliche 83 Prozent mit ihren Patienten/-innen Diskussionen über eben diese Themen führten. Das mag daran liegen, dass diese Themen allgemein in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert genießen, jedoch eher selten im medizinischen Praxisalltag.
Emotionale Reaktionen auf Gesellschaftsprobleme
Die vorgenannten gesellschaftlichen und sozialen Probleme erzeugten bei den befragten Ärzten/-innen eine Reihe von Emotionen. Die meisten gaben an, bei Gedanken an diese Themen Stress (39 Prozent) und Wut (37 Prozent) zu empfinden. Neutral, d.h. ohne besondere Gefühle, betrachteten immerhin 28 Prozent diese gesellschaftlichen Probleme. Eher seltener fühlten die befragten Ärzte/-innen jedoch Angst (19 Prozent) oder Optimismus (sieben Prozent).
Aktionen gegen Gesellschaftsprobleme
„Wer anderen Gutes tut, dem geht es selbst gut; wer anderen hilft, dem wird geholfen“, sagt schon die Bibel (Sprüche 11:25). Etwas moderner ausgedrückt könnte man sagen: „Wenn dich etwas stört, dann warte nicht auf einen Superhelden, sondern tu selbst was dagegen.“
Das sahen die befragten Ärzte/-innen genauso: Mehr als die Hälfte (66 Prozent) halfen entweder aktiv dabei, Geld für eine Wohltätigkeitsorganisation zu sammeln, oder spendeten selbst an eine Organisation, die sich für soziale Belange einsetzt. 39 Prozent arbeiteten als Freiwillige, um Menschen zu helfen, die von sozialen Problemen betroffen sind. 24 Prozent nahmen an Demonstrationen teil und 18 Prozent posteten diesbezügliche Beiträge zu diesen Themen auf ihren diversen persönlichen Social-Media-Kanälen (z.B. Twitter, Instagram, TikTok etc.). Untätig blieben nur elf Prozent.
Gedanken zum Klimawandel
Mitunter die größte emotionale Baustelle für die befragten Ärzte/-innen war eindeutig der Klimawandel. 78 Prozent waren der Meinung, dass der Klimaschutz für alle Länder die höchste Priorität haben müsse und 77 Prozent befanden, dass der Klimawandel eine der größten aktuellen Bedrohungen für die Menschheit darstellt. 61 Prozent stellten Deutschland dazu jedoch ein schlechtes Zeugnis aus und waren der persönlichen Ansicht, dass bisher die falschen oder nicht ausreichende bzw. uneffektive Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels erfolgt seien. Direkte gesundheitliche Auswirkungen auf die Gesundheit ihrer Patienten/-innen bejahten 63 Prozent.
Qualität der Gesundheitsversorgung
Genauso wichtig wie der Klimawandel war den befragten Ärzten/-innen die Qualität der Gesundheitsversorgung. 72 Prozent gaben an, dass diese in den letzten fünf Jahren (also bereits drei Jahre vor Beginn der Corona-Pandemie) spürbar abgenommen habe. Sogar noch mehr (79 Prozent) waren der Meinung, dass die Pandemie die ohnehin bereits suboptimale Versorgungssituation noch weiter verschlimmert habe.
Die befragten Ärzte/-innen benannten dazu auch diverse Gründe: 28 Prozent nannten einen Mangel an Personal, 25 Prozent eine direkt daraus resultierende zu hohe Arbeitslast für den/die Einzelne/n, 16 Prozent eine unzureichende öffentliche Finanzierung des Gesundheitswesens und 15 Prozent eine Verschlechterung der allgemeinen Organisationsstruktur. Besonders interessant: Nur zwei Prozent aller befragten Ärzte/-innen gab an, dass ihrer persönlichen Meinung nach Pflegekräfte überarbeitet seien.
Impfflicht gegen Covid-19
Nirgendwo waren die befragten Ärzte/-innen so gespalten in ihren Ansichten wie beim Thema der Impfflicht gegen Covid-19. Knapp die Hälfte (46 Prozent) befürworteten diese, etwa ein Drittel (31 Prozent) lehnte diese ab und 23 Prozent waren der persönlichen Ansicht, dass eine solche Impfflicht nur für bestimmte Berufs- oder Altersgruppen gelten solle. Damit spiegeln die befragten Ärzte/-innen deutlich den Zwiespalt zwischen medizinischer Notwendigkeit und körperlicher Selbstbestimmung wider, der diese Debatte schon seit langem befeuert.
Rassismus und Diskriminierung
Beim Thema Rassismus waren sich die befragten Ärzte/-innen wieder einig: Etwas mehr als die Hälfte gaben an, dass ihrer persönlichen Meinung nach in Deutschland Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe unterschiedlich behandelt würden (60 Prozent) und dass es eine Ungleichbehandlung verschiedener Ethnien gebe (59 Prozent).
Aber: 44 Prozent sagten ebenfalls aus, dass in der Medizin Menschen nicht aufgrund ihrer Hautfarbe unterschiedlich behandelt würden. 40 Prozent waren außerdem der Ansicht, dass die Bekämpfung von Ungleichheiten in Deutschland große Fortschritte erzielt habe. Außerdem war eine überwältigende Mehrheit der befragten Ärzte/-innen (73 Prozent) der Ansicht, dass es bei ihnen keine Diskriminierung von Kollegen/-innen oder Patienten/-innen gebe.
Abtreibung und Reproduktionsmedizin
Ein eher untergeordnetes Thema war für die befragten Ärzte/-innen der § 218 StGB, wonach ein Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe belegt ist, sofern keine triftigen Gründe für den Abbruch vorliegen. Allerdings waren sich die befragten Ärzte/-innen in ihren Ansichten hier absolut uneins: Jeweils 36 Prozent fanden die Regelungen zu streng und genau richtig. Nur sechs Prozent fanden das Gesetz nicht streng genug und 21 Prozent hatten dazu gar keine Meinung.
Auch beim Thema Leihmutterschaft herrschte unter den befragten Ärzten/-innen kein Konsens. Fast die Hälfte (45 Prozent) befürwortete zwar eine Leihmutterschaft ausschließlich bei Unfruchtbarkeit, aber 32 Prozent verneinten sie absolut. 23 Prozent hingegen befürworteten Leihmutterschaft in Deutschland sogar so vehement, dass sie sie am liebsten für alle (also auch fruchtbare Paare) zulassen würden.
Dass das ärztliche Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft wurde (§219 StGB), fand die Mehrheit (74 Prozent) jedoch einhellig gut.
Einwanderungsgesetz und Immigration
Ebenfalls sehr uneins waren sich die befragten Ärzte/-innen auch beim Einwanderungsgesetz. Etwa ein Drittel (33 Prozent) fand es nicht restriktiv genug, 28 Prozent fanden es hingegen zu restriktiv und 18 Prozent genau richtig. Keine explizite Meinung zum Thema hatten 21 Prozent.
47 Prozent der befragten Ärzte/-innen waren der Meinung, dass Deutschland derzeit unangemessen mit den Fragen der Einwanderung umginge. 42 Prozent fanden auch, dass man es Einwanderern/-innen derzeit nicht noch leichter machen solle als es ohnehin schon sei, nach Deutschland zu kommen und hier auch dauerhaft zu bleiben. 48 Prozent waren außerdem der Meinung, dass Einwanderern/-innen derzeit keinerlei Rechte verwehrt würden. 71 Prozent waren der Ansicht, dass das Gesundheitswesen Einwanderer/-innen unabhängig von ihrem Status versorge.
LGBTQ+ und medizinische Versorgung bei Geschlechtsdysphorie
Ein eher untergeordnetes Thema war für die befragten Ärzte/-innen auch die LGBTQ-Thematik. Das mag daran liegen, dass 59 Prozent angaben, dass LGBTQ-Patienten/-innen in der medizinischen Versorgung nicht diskriminiert würden und sich 31 Prozent hierzu keine persönliche Meinung hatten.
44 Prozent der befragten Ärzte/-innen gaben aber an, dass LGBTQ-Menschen ihrer persönlichen Ansicht nach allgemein in der Gesellschaft diskriminiert würden. Nur 32 Prozent waren der Meinung, dass sie allgemeine Gleichbehandlung erführen. Die Hälfte (51 Prozent) war außerdem der persönlichen Meinung, dass LGBTQ-Menschen stärker von Gewalt betroffen seien als andere Menschen.
Zum Thema Transsexualität und der geschlechtsangleichenden Versorgung in der Medizin waren sich die befragten Ärzte/-innen wieder sehr uneins: 38 Prozent waren der persönlichen Meinung, dass Patienten/-innen mit Geschlechtsdysphorie in Deutschland medizinisch unangemessen versorgt würden, während 37 Prozent dies genau konträr sahen. 24 Prozent hatten hierzu keine persönliche Meinung.
Häusliche Gewalt
Häusliche Gewalt kam in den Kliniken und Praxen der befragten Ärzte/-innen selten vor: 72 Prozent verneinten solche Fälle unter ihren Patienten/-innen und die überwältigende Mehrheit (97 Prozent) unter ihren Kollegen/-innen. Jede/r dritte Arzt/Ärztin meldete jedoch die wenigen in seiner/ihrer medizinischen Praxis auftretenden Verdachtsfälle häuslicher Gewalt der Polizei. Dennoch waren nur 16 Prozent der persönlichen Meinung, die bestehenden Maßnahmen gegen häusliche Gewalt seien ausreichend. Mehr als die Hälfte (51 Prozent) sahen hier einen zusätzlichen Regelungsbedarf von Seiten des Gesetzgebers.
Drogenkonsum und Suchtproblematik
Drogenkonsum unter Ärzten/-innen empfand die deutliche Mehrheit der befragten Ärzte/-innen (68 Prozent) als unbedeutend; nur 32 Prozent benannten sie als ein großes Problem im Gesundheitswesen. Bei der Frage nach einer eventuellen Zunahme des Drogenkonsums in der Ärzteschaft gaben 67 Prozent an, dass dieser sich nicht verändert habe. 33 Prozent sagten hingegen aus, dass er angestiegen sei und ein Prozent war der Meinung, dass er zurückgegangen sei.
Auch unter ihren Patienten/-innen sahen die befragten Ärzte/-innen Drogenproblematiken nicht als besorgniserregend. 62 Prozent gaben an, dass die Anzahl von Patienten/-innen mit Drogenproblemen auch als Folge der Pandemie gleichgeblieben sei. Nur 36 Prozent sagten aus, dass die Anzahl der Drogenabhängigen aufgrund der Pandemie angestiegen sei.