Angesichts des steigenden Bedarfs an Fachkräften im Gesundheitswesen, der bis 2049 ...
Jeder kennt den berüchtigten Aushang am Schwarzen Brett oder die ominöse Rundmail: „Aus aktuellem Anlass werden ab jetzt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu XYZ verpflichtet.“ Die Reaktion daraufhin ist immer dieselbe, denn jeder denkt beim Lesen dieser Zeilen: „Oha, da hat wohl jemand XYZ verbockt. Ob das wohl ABC war? Naja, Gottseidank war ich das nicht.“ Und genau das ist der falsche Weg, mit Fehlern umzugehen.
Erstens möchte niemand der Präzedenzfall für einen öffentlichen Aushang, eine mahnende Rundmail, neue Sicherheitsvorkehrungen oder Vorschriften sein. Und zweitens möchte jeder wissen, wer es war und was die- oder derjenige falsch gemacht hat. Beides ist nicht dazu geeignet, ein vertrauensvolles Betriebsklima zu schaffen, in dem Mitarbeitende zu ihren Fehlern stehen und zu ihrer Lösung bzw. der Verbesserung beitragen wollen. Wie man es besser macht, zeigen wir hier.
Wie sieht eine geeignete Fehlerkultur im Krankenhaus aus?
Gerade im Krankenhaus können Fehler tödlich, mit ernsthaften gesundheitlichen Folgen oder kostspieligen juristischen Langzeitfolgen enden. Es ist daher umso wichtiger, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Dann kehrt man Fehler nicht aus Angst vor Konsequenzen unter den Teppich, sondern kommuniziert sie offen. Nur wer Fehler meldet und analysiert, kann sie vermeiden und das Arbeitsklima sowie die Sicherheit im Krankenhaus für Mitarbeitende und Patientenschaft gleichermaßen verbessern.
Eine erfolgreiche Fehlerkultur im Krankenhaus erfolgt in drei Schritten:
- proaktive Fehlervermeidung
- erfolgreiche Fehlerkommunikation
- konstruktive Fehlerlösung
Proaktive Fehlervermeidung
Das erste Ziel ist, Fehler durch Routinen und Checklisten im Klinik- und Praxisalltag zu vermeiden. Diese sind vor allem
- „Time-out“ am Anfang von OPs: In einem festgelegten Ablauf tragen alle, an der OP Beteiligten die Daten über die zu operierende Person zusammen, um Verwechslungen und fehlenden Informationen vorzubeugen.
- „Zehn für zehn“: In zehn Sekunden evaluiert in kritischen Situationen (z.B. Reanimation) das Team gemeinsam die Lage und trägt alle Informationen zusammen, damit die folgenden zehn Minuten fokussiert ablaufen können.
- OP-Checkliste: Hier werden alle Notwendigkeiten vor einer OP standardisiert abgefragt, z.B. Bestellen von Blutkonserven, Markierung der richtigen Seite der zu operierenden Extremität etc.
- „Lessons Learned“ oder „M & MK“ (Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen): Diese laufen meist interdisziplinär ab und dienen dazu, einzelne Fälle zu besprechen, um aufgetretene Fehler zu vermeiden.
Erfolgreiche Fehlerkommunikation
Der menschliche Faktor ist bei der Vermeidung von Zwischenfällen im Krankenhaus entscheidend, denn viele Fehler passieren durch missverständliche Kommunikation zwischen Kollegen. Gerade diese Missverständnisse lassen sich durch konstruktive und eindeutige Kommunikation verhindern. Krankenhäuser sollten daher eine Grundlage mit Respekt und Wertschätzung schaffen sowie Zuständigkeiten klar regeln. Ferner sollte man sich bei Anweisungen verständlich ausdrücken sowie nachfragen, ob die Anweisungen richtig verstanden wurden.
In Krankenhäusern sollte erfolgreiche Fehlerkommunikation so ablaufen:
- verständliche und eindeutige Ausdrucksweise
- nachfragen, ob das Gegenüber richtig verstanden hat
- nachfragen bei Unklarheiten
- keine Angst vor „dummen Fragen“
- genaues Zuhören und Beachtung von nonverbaler Kommunikation
- Perspektive des Gegenübers einnehmen
- sach- und lösungsorientierte Verständigung
- eindeutige Klärung von Zuständigkeiten
- respektvoller und wertschätzender Ton
Konstruktive Fehlerlösung
Trotz aller Bemühungen können Fehler passieren, und wenn das der Fall ist, sollten Krankenhäuser primär an eine Lösung denken, ohne nach Schuldigen zu suchen. Ein konstruktiver Umgang mit Fehlern ist wichtig, da Fehler im Klinikalltag für die Patientinnen und Patienten dauerhafte Lebenseinschränkungen bedeuten oder gar zum Tod führen können.
Leitenden Ärztinnen und Ärzten kommt daher die wichtige Aufgabe zu, eine konstruktive Fehlerkultur im Krankenhaus zu etablieren. Dabei hilft ihnen die folgende Toolbox:
- Vorleben einer Teamstruktur aus Offenheit, Fairness und gegenseitigem Respekt mit der Akzeptanz, dass Fehler zum Alltag gehören.
- Schaffen einer angstfreien Umgebung, in der Fehler offen und konstruktiv besprochen werden können, um zukünftige Fehler zu vermeiden.
- Offenes Eingestehen eigener Fehler, um mit gutem Beispiel voranzugehen.
- Nicht das Zugeben von Fehler sanktionieren, sondern deren Verschweigen. Statt der vorwurfsvollen Frage: „Wie konnte das denn nur passieren?!“ sollte man konstruktiv nachforschen: „Welche Faktoren haben beigetragen?“
- Aktive Beteiligung von allen Teammitgliedern (Ärzteschaft, Pflegekräfte, Assistenz etc.) an der Suche nach Ursachen, nicht nach Schuldigen.
- Etablierung einer Team-Routine bei der Aufarbeitung von Fehlern.
Zehn Tipps für Arbeitgeber für eine positive Fehlerkultur
Nicht nur die aktuelle Pandemie-Situation, sondern auch der Ärzte- und Pflegemangel führt zu hohen Arbeitsbelastungen. Die Folge sind zum einen Überarbeitung, Müdigkeit und Unachtsamkeit und zum anderen eine unzureichende Betreuung der Ärztinnen und Ärzte in ihrer fachlichen Weiterbildung, so dass viele Fehler aus Unwissenheit passieren.
Arbeitgeber im Krankenhaus sollten daher proaktiv alles daransetzen, die Arbeitsbedingungen in ihrem Krankenhaus im Interesse eines gelungenen Fehlermanagements zu verbessern. Dabei hilft es auch, sich seiner positiven Vorbildfunktion bewusst zu sein und eine positive Fehlerkultur in der eigenen Arbeitsumgebung der Büroverwaltung zu etablieren. Wenn Büromitarbeiterinnen und -mitarbeiter bei Fehlern respektvoll behandelt werden, überträgt sich diese Gelassenheit auch über die Bürogrenzen hinaus in die Stationskorridore.
Diese zehn Tipps helfen Arbeitgebern bei der Etablierung einer positiven Fehlerkultur im Krankenhaus:
- Analyse des bisherigen Umgangs mit Fehlern: Wie wird aktuell mit Fehlern umgegangen? Wie meldet man sie? Wie bearbeitet man diese Nachricht? Wer behebt den Fehler? Wer oder was ist verantwortlich? Haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Angst, Fehler einzugestehen?
- Festlegung eines neuen Prozesses: Fehler muss man in einem festgelegten Prozess melden, der so kurz wie möglich anhand eines Meldeformulars erfolgen sollte. Alle Beteiligten sollte man gleichzeitig informieren und sie zu einer Teamsitzung bitten.
- Etablierung eines Belohnungssystems: Um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Fehlermeldung zu ermutigen, sollte ein Belohnungssystem eingeführt werden. Wer einen Fehler gemacht hat, kann für dessen Meldung belohnt werden, wenn dieser nicht fahrlässig oder vorsätzlich gemacht wurde, sondern aktiv hilft, Abläufe zu verbessern.
- Durchführung von Testläufen: Vor einer krankenhausweiten Einführung der neuen Fehlerkultur sollte man das System in einer Abteilung, Station oder einem Team ausprobieren.
- Information und Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Die Umsetzung einer positiven Fehlerkultur braucht Zeit, daher sollte man Mitarbeitende entsprechend schulen, z.B. in Form von Workshops.
- Setzung guter Beispiele: Um den Prozess in Gang zu setzen, sollten die ersten Fehlermeldungen aus der Führungsetage kommen, z.B. warum die Belegungszahlen zu hoch eingeschätzt wurden, welchen Einfluss das auf die Abrechnung hatte und wie in Zukunft die Schätzung besser ablaufen soll.
- Experimente: Wer keine Fehler machen will, geht keine Risiken ein, und wer nichts riskiert, kann keine neuen Ideen einbringen. Experimente z.B. bei Abläufen sollten daher ermutigt werden.
- Schaffung eines neuen Kontexts: Am wichtigsten bei der Etablierung einer neuen Fehlerkultur ist der Übergang weg von einer personen-fixierten („Wer war das?!“) und hin zu einer kontext-basierten Lösung („Wieso ist das passiert und wie kann man es vermeiden?“). Man sucht nicht die Verursacherin oder den Verursacher, sondern Fehler im Arbeitsablauf.
- Laufende Überprüfung: Wer abends stumpf das Fehlerüberwachungs-Protokoll abhakt, übersieht irgendwann wichtige Dinge. Dem beugen regelmäßige Zusammenkünfte vor, die Verbesserungen und neue Trends und Techniken bei der Fehlersuche zum Ziel haben.
- Aussprechen von Lob: Positive Verhaltensverstärkung führt zu den gewünschten Ergebnissen. Wenn man Fehler macht und meldet, sollte man das belohnen und loben. Hier gibt es viele Möglichkeiten, von einem belobigenden Aushang bis hin zu einem kleinen Bonus.
Fehlerkultur anhand fünf konkreter Beispiele aus Krankenhäusern
Die Internet-Plattform „Krankenhaus-CIRS-Netz Deutschland 2.0“ ist ein Berichtssystem für sicherheitsrelevante Ereignisse in Krankenhäusern. Das CIRS (= Critical Incident Reporting System) dient dem überregionalen, interprofessionellen und interdisziplinären Lernen. Dort kann man Fälle anonymisiert berichten, um aus ihnen zu lernen.
Die Datenbank hat derzeit 2.452 Fallberichte aus den verschiedensten medizinischen Disziplinen, angefangen von rutschigen Treppen, über nicht beachtete oder fehlerhafte Dienstanweisungen und Material- oder Dosierungsfehler bis hin zu Medikamentenfehlgaben. Alle Fallberichte enthalten Schilderungen der Abläufe, identifizieren das Problem und bieten praktische Lösungsmöglichkeiten.
Beinahe falsches Medikament verabreicht in der Chirurgie
Das Problem: Aufgrund hohen Arbeitsaufkommen hatte man einen Medikamenteneintrag über die Gabe eines Fentanylpflasters falsch gelesen. Der Eintrag wurde fälschlicherweise im Frühdienst ausgetragen und für den Folgedienst gerichtet. Der Frühdienst hatte das Pflaster nicht geklebt, da er durch Personalausfall mit nur einer Pflegekraft besetzt und überlastet war. Der Spätdienst hat das Pflaster nach vorherigem Kontrollieren im Kardex nicht verabreicht.
Die Lösung: Bei jeder Anordnung und Ausführung von Medikationsgaben muss die 6-R-Regel angewendet werden: Richtiger Patient, Richtiges Medikament, Richtige Dosis, Richtiger Zeitpunkt, Richtiger Applikationsweg, Richtige Dokumentation. Ferner wird bei der Verabreichung von Betäubungsmitteln das Vier-Augen-Prinzip angewendet: Betäubungsmittel werden erst vor der verordneten Einnahme ausgetragen und verabreicht.
Nüchternheit nicht beachtet in der Notaufnahme
Das Problem: Eine Mutter gab ihrem Kind in der Notaufnahme vor einem operativen Eingriff Schokolade aus dem Automaten im Wartezimmer. Dies ist gefährlich, denn die Aspiration von Mageninhalt ist die häufigste tödliche Anästhesiekomplikation. Die Mutter wurde bei der OP-Aufklärung auf die Einhaltung des Nüchternstatus hingewiesen, es obliegt jedoch den Patienten und Angehörigen, diese Anordnung einzuhalten.
Die Lösung: Pflegepersonal soll sich rückversichern, dass die Patienten tatsächlich nichts vor einem operativen Eingriff zu sich genommen haben. Es wird empfohlen, an dem Automaten im Wartebereich ein Schild anzubringen, das darauf hinweist, dass bei operativen Eingriffen die Nüchternheit einzuhalten ist.
Kammerflimmern bei Kardioversionsversuch in der Anästhesie
Das Problem: Bei einem Kardioversionsversuch kam es zu Kammerflimmern, da der Defibrillator einen asynchronen Schock statt einer synchronen Kardioversion abgab. Ursache war eine Fehleinstellung des Defibrillators, der Modus „SYNC nach SCHOCK“ war auf NEIN (statt auf JA) programmiert.
Die Lösung: Das Problem ist bekannt und dem Gerät eigen, daher nicht aktiv behebbar. Manche Geräte (z.B. HeartStart XL von Philips) lösen das Problem so, dass sie den Nutzer mit einem hörbaren Ton darüber informieren, dass der Synchron-Modus eingeschaltet wird. Es sollte langfristig darauf hingewirkt werden, dass alle Hersteller von Defibrillatoren einen einheitlichen Modus anbieten, damit das Rückspringen in den Asynchron-Modus nach einer Kardioversion nicht unbemerkt erfolgt.
Fehlendes Aufnahmescreening in der Patientenaufnahme
Das Problem: Bei der Patientenaufnahme hatte man vergessen, einen PCR-Abstrich durchzuführen.
Die Lösung: Achtsamkeit bei der Patientenaufnahme, Sensibilisierung für das Erkennen der Notwendigkeit und Durchführung eines Coronascreenings und gemeinsame Prüfung mit dem Hygienebeauftragten, Krankenhaushygieniker und EDV-Beauftragten, wie ein fehlender oder auffälliger Infektionsstatus identifiziert und in der elektronischen Patientendokumentation deutlich gekennzeichnet wird.
Medikationsfehler in der Chirurgie
Das Problem: Bei Aufnahme wurden ärztlich die Medikamente falsch auf dem Deckblatt erfasst und ausgedruckt. Anordnung an die Pflege war „Medikation s. Deckblatt“. Das Deckblatt wurde korrigiert, ausgedruckt und hinter das unkorrekte Deckblatt in die Fieberkurve geheftet. Die Patientin erhielt die falsche Medikation bis seitens der Pflege der Fehler bemerkt und die Medikation geändert wurde.
Die Lösung: Seit der Einführung der digitalen Patientenakte ist das beschriebene Vorkommnis nicht mehr möglich, da eine Änderung der Medikation sofort erkenntlich ist. Das Ereignis nahm man damals klinikintern zum Anlass, auf die digitale Patientenakte umzusteigen.