
Die Diskussion um die Delegation ärztlicher Leistungen tobt seit geraumer Zeit. Die Vorstellung, dass Ärztinnen und Ärzte das Heft aus der Hand geben sollen, fällt vielen noch schwer. Dabei hat interprofessionelle Zusammenarbeit im Klinikalltag viele Vorteile, zeigen etwa Beispiele aus den USA.
Komplexität und komplizierter Kontext verstärken Rufe nach mehr Delegation
Eine kurze Analogie zwischen Krankenhaus und Schiff: Ganz oben in der Klinikhierarchie steht genau eine Chefärztin oder ein Chefarzt als ärztlicher Direktor. Vergleichbar mit dem Kapitän eines Schiffs. Das Prinzip funktioniert auch für jede Klinik beziehungsweise Abteilung und ihre Unterbereiche. Immer steht die ranghöchste Ärztin oder der ranghöchste Arzt im Zentrum der Kompetenz. Inzwischen türmen sich jedoch die Argumente gegen diese traditionellen Hierarchiestrukturen.
Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Medizin komplexer geworden ist. Schneller wissenschaftlicher Fortschritt gekoppelt mit chronisch multimorbiden Patienten, einer ausdünnenden Personaldecke über alle Professionen hinweg und der wachsenden Ökonomisierung, um nur einige der wichtigsten Faktoren zu nennen, sorgen für überlastete Kliniken und eine Burn-out-gefährdete Ärzteschaft. Die eng gefassten und der Medizin nachgeordneten Verantwortungs- und Aufgabenbereiche für nicht-ärztliche Gesundheits- und Sozialberufe und die umfangreiche Dokumentation bei vertikaler Arbeitsteilung gestalten den Klinikalltag nicht gerade einfacher.
Experten sehen mehr Delegation und das Arbeiten in interprofessinellen Teams als Lösung. Denn seien wir ehrlich: Die Herausforderungen im Klinikalltag werden zunehmend komplexer. Ihnen kann niemand mehr allein begegnen. Es braucht mehr als einen Kapitän.
Stark Signale für mehr Zusammenarbeit
Mehrere Signale deuten an, dass die Reise in Richtung interprofessionelles Arbeiten geht. Dazu zählen die Emanzipationsbestrebungen von Hebammen, der Pflege- und der Therapieberufe sowie die Entstehung neuer medizinischer Berufe wie Physician Assistant, Medizincontrolling oder Medical Data Scientist. Zudem befeuerten etliche Forderungskataloge aus Wissenschaft und Praxis sowie Modellprojekte die Debatte. Ein wichtiges Modellprojekt ist sicherlich die von der Europäischen Union finanzierte Interventionsstudie „Magnet4Europe“, an der 21 Krankenhäuser aus Deutschland teilnehmen. Ein weiteres starkes Signal ist das Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungsgesetz (GVWG), dass der Bundestag am 11. Juni 2021 beschlossen hat. Es sieht die „verpflichtende Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten“ an Kräfte in der Pflege vor.
Interprofessionelle Teamarbeit: Daten aus den USA belegen Vorteile
Dass interprofessionelles Arbeiten in der Klinik die Versorgung der Patienten und die Situation aller Beschäftigten verbessern kann, zeigen nicht nur zeitlich und räumlich begrenzte Modellprojekte in deutschen Krankenhäusern. Auch aus den USA gibt es positive Langzeiterfahrungen. Daten von über 500 US-Krankenhäusern, die interprofessionelle Zusammenarbeit seit nunmehr 15 Jahren integriert haben, zeigen weniger Burn-out-Erkrankungen, geringere Fluktuationsraten, eine höhere Arbeitszufriedenheit, bessere medizinische Ergebnisse und eine verbesserte Patientensicherheit.
Wie interprofessionelles Arbeiten gelingt: Kommunikation und Respekt im Fokus
Damit jede Profession die eigenen Qualitäten ins interprofessionelle Team einbringen kann, sollten einige Bedingungen gegeben sein:
- Alle Teammitglieder müssen für die interprofessionelle Zusammenarbeit grundsätzlich offen sein.
- Jedes Teammitglied muss inklusive seiner individuellen Ausbildung, Erfahrungen und Sichtweisen respektiert werden. Die Expertise jedes Teammitglieds sollte geschätzt werden.
- Es muss kontinuierlich und gezielt miteinander kommuniziert werden. Das kann ein Umdenken erfordern. Insgesamt stellt interprofessionelles Arbeiten höhere Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit aller Beteiligten, denn es geht über bloße Delegation hinaus.
- Das Team muss sich auf gemeinsame Ziele sowie Maßnahmen verständigen.
- Man muss respektieren, dass unterschiedliche Personen verschiedene Möglichkeiten zur Problembearbeitung haben.
- Konflikte müssen konstruktiv angegangen werden. Mitunter kann dafür eine begleitende Supervision eingerichtet werden.
- Eine neue klare Rollenverteilung muss im Team etabliert werden, wobei die Führungsrolle nicht in den Händen eines Kapitäns ruhen sollte.
- Das Team muss abgestimmt und ineinandergreifend handeln.
Sind diese Bedingungen gegeben, können Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Kompetenzbereiche aus dem Klinikalltag ein gut funktionierendes Team bilden, das die optimale Patientenversorgung als oberstes gemeinsames Ziel hat. Ein wichtiger Baustein dazu ist aber, dass Ärztinnen und Ärzte die Furcht vor der Delegation von Aufgaben und den befürchteten damit verbundenen Verlust von Verantwortung ablegen.