
Work Life Balance ist jungen Menschen ausgesprochen wichtig, auch in der Medizinbranche. Gerade in deren Alltag geht das allerdings selten zusammen. Zwar wurde Pflegepersonal während des Corona-Lockdowns gerne kräftig beklascht, getan hat sich jedoch nichts. Unmögliche Arbeitszeiten, keine Pausen, überquellende Überstundenkonten lassen das Personal in profitorientierten Kliniken knapp werden. Was können die Einrichtungen also tun, um attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen? Ein Annährungsversuch.
Wenn Florian* sich durch seine dichten Haare fährt, ist es fast so, als würde er sich selbige raufen, denn wir sprechen über die Arbeitsbedingungen in der Gesundheitsbranche. Der 28-Jährige hat nach dem Abi drei Jahre lang eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht, danach eineinhalb Jahre im Dreischichtendienst gearbeitet. „Ein Knochenjob“, sagt er. Den er so erfolgreich absolviert hat, dass er ein Stipendium in einer Klinik bekam. Inzwischen ist er im achten Semester Humanmedizin unterwegs und schreibt an seiner Doktorarbeit. Wenn er sich etwas wünschen könnte, was wäre das? Für einen Moment sieht es so aus, als wüsste er nicht, wo er beginnen soll. Dann legt er los: „Einen festen Ansprechpartner, eine Art Mentorensystem in Sachen Weiterbildung. Zeitverträge mit längerer Laufzeit, damit man sich nicht andauernd einen neuen Job suchen oder sich sogar arbeitslos melden muss. Faire Bezahlung. Überstunden, die auch als solche zählen, denn die Arbeit ist ja geleistet. Flexible Arbeitszeitmodelle. Freizeitausgleich.“ Und dann sagt er noch den Satz, der wohl vielen seiner Generation aus dem Herzen spricht: „Den Job halt dem Leben anpassen, und nicht nur das Leben dem Job.“
Mitarbeiter arbeiten, um zu leben – nicht umgekehrt
Welche Maßnahmen Unternehmen einsetzen können, um ihre Mitarbeiter zu binden, hat die Studie „Recruiting Trends 2020“ des Centre of Human Resources Information Systems (CHRIS) und Monster. Daraus geht hervor, dass vier von zehn Kandidaten oft darüber nachdenken, den aktuellen Vertrag beim Unternehmen zu kündigen. Auf die Frage, ob Mitarbeiter arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten, antwortet die überragende Mehrheit der Kandidaten genau wie Florian: „Ich arbeite, um zu leben. Nur jeder zehnte Kandidat lebt, um zu arbeiten.“
Eine andere Generation aber ein ähnliches Problem: Ruth* ist die Zwölfstunden-Schichten ohne Pausen leid. „Die Arbeitsbelastung ist einfach zu hoch“, sagt die 60-Jährige. Die Oberärztin hat seit Februar satte 140 Überstunden aufgebaut. Vor zwölf Jahren war sie wieder in den Beruf eingestiegen, nach 24-jähriger Erziehungszeit. Deshalb hatte sie wenig Ansprüche: „Nach so einer langen Zeit war ich froh, überhaupt eine Stelle zu bekommen.“ Viel hat sich in den Jahren in der Medizin verändert, Stichwort Privatisierung, sagt sie. „Der Takt ist viel höher, es gibt viel mehr Patienten, die in immer kürzerer Zeit behandelt werden müssen. Und dass bei immer weniger Personal.“ Ruth wird jetzt in eine andere Klinik wechseln, weg aus der Akutmedizin. Stichwort Work-Life-Balance.
Nicht weniger, sondern flexibler arbeiten
Wieviel Wert Mitarbeiter auf eine ausgewogene Work-Life-Balance legen, zeigt die Studie Recruiting-Trends deutlich: Acht von zehn Kandidaten geben an, dass die Work-Life-Balance für sie einen hohen Stellenwert hat. Das bedeutet dabei nicht unbedingt weniger, sondern vielmehr flexibler zu arbeiten. Beispielsweise würden sieben von zehn Kandidaten lieber vier statt fünf Tage in der Woche bei gleicher Arbeitszeit arbeiten. Unternehmen können sich also zum Beispiel bei einem Teil der Kandidaten mit einer Vier-Tage-Woche positiv hervortun.
Wie Unternehmen Mitarbeiter*innen binden können
Ein attraktives Argument zur Mitarbeiterbindung scheinen daher zum Beispiel Zeitwertkonten zu sein. Denn irgendwann eine Auszeit zu nehmen oder früher in Rente zu gehen und trotzdem Lohn zu erhalten – für viele Beschäftigte ist dies eine reizvolle Vorstellung. Vorteile für den Arbeitgeber: Steigerung der eigenen Attraktivität, indem sie verbesserte Chancen auf einen finanziell attraktiven Vorruhestand als eine Möglichkeit der Altersteilzeit bei gleichzeitigem finanziellen Ausgleich schaffen und Alternative zur früher möglichen Frühverrentung bilden. Außerdem dienen sie als Alternative zur Betriebsrente, die vielseitiger eingesetzt werden kann. Dabei können quasi alle Lohn- und Gehaltsbestandteile auf ein Zeitwertkonto eingezahlt werden: außertarifliche, übertarifliche, tarifliche Leistungen, Überstunden, Stundenguthaben aus Kurzzeitkonten, nicht genommener Urlaub, der über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgeht oder freiwillige Arbeitgeberleistungen.
In der Regel sind Zeitwertkonten freiwillige Angebote des Arbeitgebers. Entsprechend können Beschäftigte auch frei entscheiden, welche ihrer Gehalts-Bestandteile sie in welcher Höhe einzahlen wollen. Guthaben aus Überstunden oder nicht genommenem Urlaub werden auf Basis des aktuellen Stundensatzes in Geld umgerechnet und angelegt. Das Geld bleibt Eigentum des/der jeweiligen Beschäftigten. Das Geld wird dann schrittweise ausgezahlt und ersetzt damit ganz oder teilweise das Gehalt. Vom Gesetz vorgeschrieben ist die Möglichkeit, mit dem Zeitguthaben Altersteilzeit oder einen Vorruhestand zu finanzieren. Je nach Vertragsvereinbarung mit dem Arbeitgeber kann das “Zeitsparbuch” beispielsweise auch für folgende Situationen genutzt werden: als Sabbatical, Pflege von Angehörigen bei reduzierter Arbeitszeit, Erziehungszeiten finanziell überbrücken oder Finanzierung einer Auszeit, um sich weiterzubilden.
Ein weiteres „Tool“ könnte die betriebliche Alterversorgung (bAV) sein, also finanzielle Leistungen, die ein Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer zur Altersversorgung, Versorgung von Hinterbliebenen bei Tod oder zur Invaliditätsversorgung bei Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit zusagt. Betriebsrenten sind für viele Arbeitnehmer eine sinnvolle Möglichkeit, Einbußen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu kompensieren. Dabei spart der Arbeitgeber bei der betrieblichen Altersversorgung oftmals Lohnnebenkosten. (Quelle: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft)
Das Arbeitsklima ist allen wichtig
Instrumente wie diese hin, Work-Life-Balance her. Laut Studie ist ein gutes Arbeitsklima mindestens genauso wichtig. Fast neun von zehn Kandidaten sagen, dass sie viel Wert auf ein solches legen. Allerdings haben die Unternehmen sowohl beim Thema Work-Life-Balance als auch beim Thema Arbeitsklima aus Kandidatensicht Nachholbedarf: Nur etwas mehr als die Hälfte der Kandidaten findet das Arbeitsklima im eigenen Unternehmen gut. Und weniger als die Hälfte gibt an, dass die Work-Life-Balance in ihrem Unternehmen einen hohen Stellenwert besitzt. Aus Unternehmenssicht stellt sich das sehr viel positiver dar. Jeweils neun von zehn Unternehmen geben an, dass in ihrer Firma viel Wert auf ein gutes Arbeitsklima gelegt wird und es auch tatsächlich gut ist – genauso viele Unternehmen sagen aus, dass die WorkLifeBalance ihrer Mitarbeiter im Unternehmen einen hohen Stellenwert genießt. Unternehmen sollten also darauf achten, dass ihre Ansichten von guter Work-Life-Balance und gutem Arbeitsklima auch tatsächlich den Ansichten ihrer Mitarbeiter entsprechen.
„So, Punkt. Ich hätte halt gerne die Wahl: Geld oder Freizeit“, sagt Florian und steckt seinen Schopf wieder in die Bücherberge.
*Namen geändert
1. Black Salmon/shutterstock.com