Der Fachkräftemangel spitzt sich vor allem im Gesundheitswesen immer schärfer zu und ...

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Reverse Recruiting fand bisher im Gesundheitswesen noch recht wenig Beachtung. Zwischen Kulturwandel im Krankenhaus und Digitalisierung stehen Arbeitgeber im Gesundheitswesen den Herausforderungen einer stetigen Veränderung gegenüber. Da ist es nur natürlich, dass sich auch Recruiting-Prozesse immer wieder neu anpassen müssen.
Seit einiger Zeit liegt Reverse Recruiting v.a. in Branchen wie der IT im Trend und gilt dort als Zukunftstool bei der Personalbeschaffung. Die dortigen Erfolge lassen sich auch auf andere Branchen übertragen und sollten Arbeitgeber im Gesundheitswesen Grund dazu geben, ihre Personal-Akquirierung um dieses Tool zu erweitern. Doch was steckt hinter dem Begriff „Reverse Recruiting“ und was sollte man über diesen Recruiting-Trend wissen?
Wir stellen hier im Überblick das Konzept und den Prozess des Reverse Recruiting vor, gehen auf die wichtigsten Infos ein und geben konkrete Handlungstipps.
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Was ist Reverse Recruiting?
Der Fachkräftemangel droht mittlerweile viele Bereiche des Gesundheitssystems lahmzulegen. Passende Kandidaten/-innen sind schwer zu finden und um die wenigen verfügbaren Fachkräfte wird teilweise regelrecht gekämpft. Aus diesem Grund nutzen viele Kliniken Strategien wie Employer Branding, um auf Bewerber/innen attraktiv zu wirken und ihr Arbeitgeberimage positiv aufzuwerten. Eine weitere – vielleicht sogar durchaus logische – Konsequenz ist hieraus, dass sich der Arbeitgeber bei dem/-r Wunschkandidaten/-in bewirbt. Genau das bezeichnet der englische Begriff Reverse Recruiting: umgekehrtes Rekrutieren in der Personalbeschaffung.
Beim Reverse Recruiting Prozess bewirbt sich demnach der Arbeitgeber bei dem/-r Arbeitnehmer/in. Damit wird der bisherige Bewerbungsprozess umgekehrt und sowohl Stellenanzeigen wie auch Bewerbungsprozesse im herkömmlichen Sinne entfallen. Dieser Trend hat bereits in vielen Branchen zum Erfolg geführt, v.a. in der IT und in den Naturwissenschaften. Längst gehen Arbeitgeber hier neue Wege und Active Sourcing, also die Direktansprache von Kandidaten/-innen, ist inzwischen fester Bestandteil in einem guten Recruiting Mix aus Messen, Karriereplattformen, Social Media und Co.
Das Auffinden von Talenten in Pflege- und Arztberufen sieht vor, dass nicht die Pflegefachkraft oder der/die Arzt/Ärztin mit der Bewerbungsmappe zur Klinik kommt, sondern die Klinik sich selbst aktiv bei potenziellen neuen Mitarbeitenden bewirbt. Reverse Recruiting ist sehr erfolgreich und vielversprechend, da man hiermit gezielt nach geeigneten Kandidaten/-innen sucht, um sie anschließend proaktiv zu kontaktieren. Diese können dann selbst entscheiden, ob das Jobangebot für sie interessant ist oder nicht.
Wo liegt der Unterschied zu Active Sourcing?
Auf den ersten Blick scheinen Active Sourcing und Reverse Recruiting identisch, denn beide haben zum Ziel, medizinische Fachkräfte zu finden und gezielt anzusprechen. Bei beiden Methoden geht der erste Schritt also von der Krankenhausverwaltung aus. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied.
Beim Active Sourcing folgt auf die Ansprache der medizinischen Fachkraft ein regulärer Bewerbungsprozess, in welchem das Krankenhaus die finale Entscheidung trifft. Davon rückt das umgekehrte Recruiting ab und macht das Krankenhaus zum eigentlichen Bewerber. Sprich, der Arbeitgeber im Gesundheitswesen stellt sich mit seiner Bewerbungsmappe bei der Pflegekraft vor. Reverse Recruiting erhöht deutlich die Chancen, passende medizinische Fachkräfte mit geeigneten fachlichen und persönlichen Qualifikationen für sich zu gewinnen. Besonders jüngere Generationen von Ärzten/-innen und Pflegekräften fühlen sich auf diese Weise angesprochen und belohnen diese neuartige Eigeninitiative des neuen potenziellen Arbeitgebers.
Reverse Recruiting online
Reverse Recruiting Portale können ein erster Schritt sein. Statt einer klassischen Stellenanzeige schreibt der Arbeitgeber im Gesundheitswesen eine Art Bewerbung auf der Plattform. Dies kann für beide Seiten schneller und effizienter sein als der „klassische“ Weg.
Anstatt immer wieder neu auf immer gleiche Stellenausschreibungen und -anzeigen zu reagieren, legen sich wechselbereite Pflegekräfte und Ärzte/-innen dort ein Profil an und hinterlegen gezielt ihre medizinischen Fähigkeiten und Kenntnisse sowie Wünsche an ihren potenziellen neuen Arbeitgeber. Unternehmen wiederum können in demselben Pool nach spezifischen Qualifikationen, Wunscharbeitsort und Gehaltserwartungen suchen.
Einziger Nachteil: Befindet sich ein/e Arzt/Ärztin, Therapeut/-in oder Pflegekraft auf einer solchen Plattform, kann der aktuelle Arbeitgeber einen dort genauso entdecken wie potenzielle neue Arbeitgeber. Das kann u.U. auch gewaltig nach hinten losgehen und den eigenen Karriereweg deutlich erschweren, wenn man dort gewissermaßen „ertappt“ wird.
Reverse Recruiting generell
Reverse Recruiting muss aber nicht zwangsläufig über ein entsprechendes Online-Portal erfolgen. Man kann auch komplett offline bleiben oder nur einzelne Online-tools nutzen, ohne sich an eine Plattform zu binden. Dazu muss man einige Schritte beachten.
Bewerbungsgrundsätze
Arbeitgeber im Gesundheitsbereich können ihren Bewerbungsprozess anstoßen, indem sie der gewünschten medizinischen Fachkraft spezifische Informationen über eine vakante Stelle zukommen lassen. Das geht am besten per Mail, aber auch altmodisch per Post, wenn man z.B. eigens produzierte Hochglanzbroschüren, Faltblätter o.ä. der eigenen Klinik beilegen möchte.
Hierbei gelten dieselben Bewerbungsgrundsätze, die vor dem Reverse Recruiting für Bewerber/innen galten. Wichtig sind umfassende Informationen, die professionell (sprich: von Medienfirmen oder versierten Mitarbeitenden) aufbereitet sind, z.B. peppige Power-Point-Präsentationen oder ein eigener Bewerber-Tap in einem speziellen versteckten Link auf der eigenen Homepage. Ideal ist ein Recruiting-Video, das man z.B. bei YouTube als nicht öffentlich oder „ungelistet“ hochladen kann und das nur mit einem speziellen Link für den/die gewünschte medizinische Fachkraft erreichbar ist. Aber nur eine E-Mail mit Links zu versenden, reicht natürlich nicht.
Anschreiben
Im Anschreiben, das als PDF der E-Mail beigelegt sein sollte, sollten potenzielle Arbeitgeber im Gesundheitswesen den persönlichen Kontakt mit Fingerspitzengefühl aufbauen. Das heißt konkret, keine Massenmail mit Textbausteinen zu versenden und Flüchtigkeitsfehler (unrichtige Anrede, Name falsch geschrieben, Titel nicht korrekt etc.) vermeiden. Genauso wie im früheren umgekehrten Bewerbungsverfahren bekommt dann nämlich der/die Angeschriebene den Eindruck, man habe ihn/sie einfach auf irgendeine Mailingliste gesetzt und sei gar nicht konkret an ihm/ihr interessiert.
Persönliche Ansprache
Individuelle Schreiben und gezielte Informationen sind ein Muss. Der/die Recruiter/in sollte dabei immer Bezug auf die individuellen Skills der gewünschten medizinischen Fachkraft nehmen und diese mit der ausgeschriebenen Stelle verbinden. Etwa so: „Ich bin durch Ihre exzellenten Qualifikationen im Bereich Kniegelenks-Implantation auf Sie aufmerksam geworden. In unserer chirurgischen Abteilung ist derzeit eine solche Stelle vakant. Mit Ihren Fähigkeiten würden Sie ideal in unser junges, dynamisches Team aus kompetenten Ärzten/-innen und Pflegekräften passen.“
Extras
Im Bereich „kann man, muss man aber nicht“ bieten sich vielfältige Möglichkeiten. Z.B. eine Angabe, was in punkto Einkommen zu erwarten ist, ist je nachdem ob man diesbezüglich wettbewerbsfähig ist, nicht verkehrt. Wenn die Klinik z.B. besondere Zusatzleistungen bietet (Klinik-Kindergarten, Freizeitausgleich für Überstunden, bezahlte Fortbildungen, überdurchschnittlich mehr Urlaub, besondere Arbeitszeitmodelle etc.) gehört das unbedingt in die Informationen.
Regionale Besonderheiten wie z.B. eine attraktive Kliniklage, gute Verkehrsanbindungen, bezahlbare und leicht verfügbare Wohnungen im Klinikbereich etc. sollte man ebenfalls erwähnen. Wenn die Klinik für spezielle medizinische Eingriffe oder Therapieverfahren berühmt ist, gehört auch das dazu. Bei allem in diesem Bereich gilt: Je vollständiger die Angaben, umso größer die Chance, dass sich die Wunschfachkraft zurückmeldet.
Reverse Recruiting „Step by Step”
Beim Reverse Recruiting sollte man einige wesentliche Dinge im Blick haben:
- Wählerisch sein. Vorab-Recherche zu medizinischen Wunschfachkräften ist unabdingbar, um diese Kenntnisse für die Kommunikation zu nutzen (z.B. auf entsprechenden Karriere-Websites).
- „Word of Mouth“ beachten. Viele Ärzte/-innen kennen z.B. ehemalige Kommilitonen/-innen und viele Pflegekräfte haben Bekannte, die wechselwillig sind.
- HR mit einbeziehen. Haben kompetente Fachkräfte z.B. vor einem Jahr gekündigt, die man gerne zurückhätte? Woran lag die Kündigung (Gehalt, Urlaub, Überarbeitung etc.) und existiert dieser Grund noch?
- Messen und Events besuchen. Nicht nur über Social Media und persönliche Empfehlungen kann man geeignete medizinische Fachkräfte finden. Auch Medizinmessen, -kongresse und Karriere-Events bieten eine Möglichkeit, die Klinik vorzustellen und sich bei Kandidaten/-innen als Arbeitgeber zu bewerben.
- Konkurrenzfähig sein. Nicht nur große Kliniken mit riesigen Forschungsbudgets und hohen Gehältern können Wunschkandidaten/-innen einiges bieten, sondern auch kleine Krankenhäuser. Man muss es nur hervorheben, z.B. in Form von Work-Life-Balance, Nachhaltigkeit und Teamwork.
- Sich von der Masse abheben. Bestimmte Punkte bieten alle Arbeitgeber im Gesundheitswesen, daher sind Besonderheiten Gold wert. Dies sind z.B. flexible Arbeitszeiten, Möglichkeiten für Homeoffice (z.B. für den „Papierkram“-Teil der vakanten Stelle, sofern durchführbar), Weiterbildungsprogramme oder umweltbewusstes Arbeiten.
- Zeitfaktor mit einbeziehen. Reverse Recruiting benötigt mehr Zeit als das Schalten einer Stellenanzeige. Setzt man den Zeitaufwand jedoch ins Verhältnis, negiert sich dieser meistens wieder. Gezielt mit potenziell passenden Kandidaten/-innen in Kontakt zu treten kann erfolgreicher sein als viele unpassende Bewerbungen zu sichten.
- Einfach mal ausprobieren. Man muss nicht zwingend alle Stellen durch Reverse Recruiting besetzen und auch nicht dabeibleiben, wenn es nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Eine Chance sollte man diesem neuen Recruiting Tool aber durchaus geben.
- Professionell agieren. Ist die Wahl getroffen, keine Standard-Mails verschicken, sondern individuell, gezielt und persönlich kommunizieren. Dabei sorgfältig, korrekt und ohne Flüchtigkeitsfehler (Rechtschreibung und Grammatik) schreiben sowie modern und professionell agieren.
Macht Reverse Recruiting für jeden Sinn?
Reverse Recruiting macht nicht für jede Klinik oder Praxis Sinn. Daher sollte man nach den ersten Versuchen einige Punkte beachten und analysieren, ob man von diesem zeitaufwändigen Verfahren dauerhaft profitiert oder es lieber beim Versuch belassen sollte.
- Erfolg des Prozesses überprüfen: Konnte man die passenden Bewerber/innen auf sich aufmerksam machen? Wie vergleichen sich die Zahlen vor dem Reverse Recruiting mit der Anzahl der Kandidaten/-innen danach?
- Maß der Übereinstimmung überprüfen: Passen die Wunschkandidaten/-innen und die ausgeschriebenen Stellen zueinander? Stimmen die Qualifikationen und Erwartungen überein?
- Zeitaufwand überprüfen: Wie viel Zeit wurde benötigt, um eine ausgeschriebene Stelle zu besetzen? Konnte man mit Reverse Recruiting Zeit sparen oder war es aufwändiger?
- Kostenaufwand überprüfen: Wie hoch waren die Kosten? Professionell produzierte Videos, Hochglanzbroschüren und IT-Fachpersonal für die benötigten Links etc. können teuer werden. Konnte man eine vakante Stelle aber schneller besetzen, spart man Zeit und somit auch Geld.
Hat das Reverse Recruiting in einigen oder allen Punkten zu keiner Verbesserung geführt, kann man entweder über eine Optimierung des Prozesses nachdenken oder zum klassischen Bewerbungsablauf zurückkehren.