
„Hey, du bist doch Arzt/Ärztin! Könntest du mal …?“ Diese Frage aus dem Familienverbund oder Freundeskreis, versetzt viele Kollegen/-innen in einen Zwiespalt. Oft wissen Ärzte/-innen nicht so recht, wie sie sich in so einer Situation am besten verhalten sollen. Einerseits soll Freunden/-innen oder Angehörigen bestmöglich geholfen werden, andererseits fallen bestimmte Fragen gar nicht ins eigene Fachgebiet oder sind inhaltlich brisant.
Inhaltsverzeichnis
Dabei sind ein kleiner Hautausschlag hier oder eine Schnittwunde dort weniger das Problem. Komplizierter wird es dann, wenn es sich um schwerwiegende Erkrankungen oder Operationen handelt, Behandlungsfehler passieren oder gar jemand zu Tode kommt. Der folgende Beitrag beleuchtet das Für und Wider bei der Behandlung von Angehörigen.
Rechtliche Grundlagen beachten
Die Mehrheit der Mediziner/innen hält es für eine Selbstverständlichkeit, im Zweifelsfall mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wenn Freunde/-innen oder Angehörige um Hilfe bitten. Allerdings wird die Sachlage an offizieller Stelle teilweise nicht so selbstverständlich betrachtet. So empfiehlt beispielsweise die American Medical Association (AMA), dass Ärzte/-innen grundsätzlich von der Behandlung enger Familienmitglieder absehen sollten. Es bestünde die große Gefahr, dass die persönliche und emotionale Verbindung zum Behandlungsfall, die professionelle Urteilsfähigkeit beeinträchtigen könnte.
Auch in Kanada, Australien, Großbritannien, den Niederlanden und Norwegen wird geraten, die Behandlung von Personen, zu denen engere Verbindung besteht, zu vermeiden. In Brasilien ist die Behandlung Angehöriger teilweise sogar untersagt.
Außerdem gelten Dokumentations- und Sorgfaltspflicht auch, oder vielleicht sogar besonders, im persönlichen Umfeld. Einen weiteren rechtlichen Faktor stellt die Schweigepflicht dar, die nicht außer Kraft gesetzt ist, nur weil es sich um eine/n Patienten/-in aus dem engsten Umfeld handelt.
Prinzipiell ist in Deutschland aber die Behandlung von Angehörigen vollumfänglich gestattet und von der Berufshaftpflichtversicherung auch in der Regel abgedeckt. Das schließt auch die Verordnung und Verabreichung von Betäubungsmitteln oder Operationen mit ein.
Für und Wider bei der Behandlung von Familie und Freunden
Im Gegensatz zu den USA, wo der AMA-Code bereits im Medizinstudium thematisiert wird und bei allen Medizinern/-innen verinnerlicht ist, spielt die Debatte um die Behandlung von engen Angehörigen hierzulande eine untergeordnete Rolle im öffentlichen Diskurs.
Häufig wird der ärztliche Rat von Familie oder Freunden nicht in der Praxis eingeholt, sondern am Mittagstisch oder anderen privaten Treffen. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass die übliche professionelle Routine durch Ärzte/-innen gar nicht eingehalten werden kann. Die ärztliche Rolle könnte am Mittagstisch schlichtweg weniger Gewicht haben als in den Räumlichkeiten der Praxis. Es kann zu einem intrapersonellen Rollenkonflikt kommen zwischen dem Arzt/der Ärztin mit professioneller Distanz zur Sache und dem/der Angehörigen, der/emotional in den Fall involviert ist.
Die Anamneseerhebung kann sich ebenfalls schwierig gestalten. Das gilt besonders dann, wenn noch weitere Personen zugegen sind. Schließlich könnten zum Beispiel schambehaftete Informationen zurückgehalten oder andersherum nicht erfragt werden. Dadurch würde eine unvoreingenommene Beurteilung schon von vornherein erschwert. Darüber hinaus stehen außerhalb der Praxisräumlichkeiten nicht die üblichen Gerätschaften und entsprechende Diagnostik zur Verfügung. Außerdem besteht die Gefahr, dass bestimmte (vor allem intime) Untersuchungen erst gar nicht erfolgen, wenn es sich um enge Vertraute handelt.
Mögliche Folgen für persönliche Beziehungen
Ein weiteres Argument, das gegen die Behandlung von Angehörigen sprechen könnte, ist die Gefahr, dass persönliche Beziehungen durch das Behandlungsergebnis gefährdet werden könnten. Angehörige haben, genau wie fremde Patienten/-innen auch, gewisse Erwartungen an den ärztlichen Rat. Wenn der gewünschte Effekt dann ausbleibt, kann es schwierig sein, dies aus der persönlichen Ebene herauszuhalten.
Der Vielzahl an Argumenten gegen die Behandlung von Familie und Freunden, stehen auch kontroverse Meinungen gegenüber. Viele Kollegen/-innen vertreten beispielsweise die Auffassung, dass andere Ärzte/-innen eine Behandlung möglicherweise qualitativ schlechter durchführen könnten und kümmern sich letztendlich dann doch lieber selbst um den Fall. Außerdem können den Angehörigen lange Wege und Wartezeiten erspart bleiben, wenn sie selbst behandelt werden. Einige Ärzte/-innen sind der Meinung, dass es keinen Unterschied mache, ob der/die Patient/in Angehöriger sei oder nicht. Schwierige Entscheidungen gehörten ihnen zufolge so oder so zum Arztberuf.
Ethische Betrachtungspunkte in Deutschland
Hierzulande gibt es keine offizielle Empfehlung zu der Frage, ob Mediziner/innen ihre eigenen Angehörigen behandeln sollten oder nicht. Vielmehr ist diese Entscheidung jedem/-r Kollegen/-in selbst überlassen.
Hierbei kann jeder selbst seine/ihre professionelle Distanz abschätzen. Wer unsicher ist, im Zweifelsfall objektiv bleiben zu können, der/die sollte darüber nachdenken, gar nicht erst mit der Behandlung von Angehörigen zu beginnen. Denn wenn bereits kleinere Krankheiten im Familienkreis therapiert wurden, fällt der Ausstieg bei größeren Problemen umso schwerer.
Abgesehen davon könnte ein Behandlungsversuch auch einmal missglücken. Dies sollte vor der Übernahme eines Falles aus dem Familienverbund unbedingt bedacht werden. Es könnte zu Vorwürfen oder Schuldgefühlen kommen und persönliche Beziehungen zerstört werden.
Medizinethiker/innen sprechen sich teilweise für eine Behandlung des Themas bereits während der ärztlichen Ausbildung aus. Vor allem Allgemeinmediziner/innen müssten darauf vorbereitet werden, dass solche Situationen im späteren Berufsalltag auf sie zukommen werden. Dabei sollte gelehrt werden, dass die Urteilskraft beeinträchtigt sein kann, wenn eine zu hohe Befangenheit eine Rolle spielt.
Fazit
Im Gegensatz zu den USA, gibt es in Deutschland keinen allgemein anerkannten Verhaltenskodex, der sich mit der Behandlung von Angehörigen auseinandersetzt. Vielmehr wird die Verantwortung in die Hände des/-r betroffenen Arztes/Ärztin gelegt. Von einer Verallgemeinerung wird abgesehen, da die Entscheidung über die Behandlung Angehöriger von zu vielen Einflussfaktoren abhängt.
Beziehungen und Beziehungsformen können vielschichtig sein. Die Schwere der Erkrankung spielt eine entscheidende Rolle bei der individuellen Entscheidung. Die Selbsteinschätzung, Werte oder Prinzipien des/-r betroffenen Arztes/Ärztin werden berücksichtigt. Diese Faktoren kann in Zusammenschau schlussendlich nur der Arzt/die Ärztin selbst beurteilen. Entscheidend ist das Bewusstsein darüber, dass das Urteilsvermögen zu Ungunsten der Professionalität, durch persönliche Bindung beeinträchtigt sein kann. Wer hier zweifelt, ist sicher gut beraten, den Angehörigen als professionelle/r Berater/in zur Seite zu stehen, die Behandlung aber einem/-r Kollegen/-in des Vertrauens zu überlassen.