Es gibt junge Patienten, und alte. Große und Kleine. Ranke und Schlanke. Und es gibt Patienten, die in eine Kategorie fallen, die man in der Modewelt sehr diplomatisch als „Anschlussgröße“ bezeichnet. Jeder der im Gesundheitswesen arbeitet weiß, dass es solche Patienten zwar schon immer gab – aber dass ihre Zahl in den letzten Jahren (Achtung, Wortwitz!) auffallend zugenommen hat.
Für Übergewicht gibt es viele Gründe: Ernährung, Lifestyle, Erziehung, Krankheit, Veranlagung und alles, was uns die bunten Boulevardmagazine sonst noch glauben machen wollen. Die Wahrheit wird wohl irgendwo zwischen Kühlschrank, Chipstüte und Couch liegen. Aber da wir alle hin und wieder einen ungesunden Lebenswandel zelebrieren, liegt es mir fern, Übergewichtigkeit per se zu verteufeln. Solange sich Menschen mit Anschlusskörpergrößen wohl in der eigenen Haut fühlen, ist alles in bester Ordnung. Wenn sie aber zu Patienten werden, und damit zu Krankenhauskundschaft, kann sich das eigene Körpergewicht auf perfide Art und Weise rächen.
Das Trauerspiel kennen wir alle: Zu Beginn steht ein banaler Eingriff. Dann kommt die Wundheilungsstörung, der Platzbauch oder die Infektion. Und nach 25 Revisionen, Débridements, Vac-Wechseln, Jet-Lavagen und Spülungen steht man als Sandmann in der Einleitung vor einem Patienten, der einem angst und bange macht. Mit ohne Venenstatus, wenig Hals, schwierigem Atemweg, zu viel Lebendgewicht, zu wenig pulmonaler Reserve.
Solche Patienten verlangen einem alles ab. Geduld, Courage, Kraft, Kondition, Nervenstärke, Massen an Medikamenten und ein MacGyver-artiges Talent für Improvisation.
Was tun, wenn der Schwerlasttisch mit allen Anbauten und Erweiterungen immer noch lächerlich klein unter dem Patienten ausschaut, und dieser allein durch die Gnade der Götter noch oben liegt? Was tun, wenn man sich das elegante Regionalverfahren abschminken kann, weil die Nadellänge niemals ausreicht? Was tun, wenn man endlich durchgeschwitzt aber glücklich im Saal angekommen ist – und plötzlich gibt die Säule nach?
In solchen Momenten der absoluten Frustration ist es verlockend einfach, auf den Patienten zu schimpfen. Auf diese unvernünftige, ungezügelte Person, gefangen im eigenen Körper, die es mit ihrer Maßlosigkeit geschafft hat, einem ganzen OP-Team den Tag zur Hölle zu machen.
Und die Kommentare, die einem entgegenschlagen, wenn man einen Anschlussgrößen-Patient von der Einleitung in den Saal schiebt, kennt jeder Sandmann gut.
Ein Patient jedoch lehrte mich eine neue Sichtweise der Dinge.
Als ich an jedem Tag meine Einleitung betrat, lag Obelix vor mir. Ein riesiger Mann mit liebenswürdigem Gesicht, und dem größten Kugelbauch den ich je gesehen hatte.
Ich begrüßte ihn, stellte mich vor, griff zu den Unterlagen und wollte eben mit meiner kleinen Einleitungsvisite beginnen, als er mir ins Wort fiel.
„Guten Tag Frau Sandmann“, sagte er, „schön Sie kennen zu lernen. Bevor Sie anfangen habe ich eine Bitte: Ersparen Sie mir Kommentare zu meinem Übergewicht. Ich weiß wie ich aussehe.
Sie werden 3 Ampullen Propofol brauchen.“
Ich war baff. Dieser Patient war nicht nur ausnehmend freundlich und höflich, sondern auch gut vorbereitet. Zwar hatte ich nicht vor, ihn an dieser Stelle für sein Übergewicht zu kritisieren, aber sein Kommentar machte mir eines ganz deutlich: Er hatte in seinem Leben schon genug Sticheleien und hochgezogene Augenbrauen eingesteckt.
Seitdem denke ich an ihn, wenn ich Patienten mit Anschlussgrößen einleite.
Herzliche Grüße,
Frau Sandmann