Es hat viele Vorteile, als Sandmann zu arbeiten. Wenn alles gut läuft, kann Narkose machen unglaublich entspannt ablaufen: Patient begrüßen, Patient schlafen legen, Beatmung machen, ein wenig Protokoll schreiben, Patient wieder aufwecken, Patient abgeben – das ist mein täglich Brot.
Unsere „one patient at a time“ – Devise ist in der heutigen Medizin schon beinahe ein Alleinstellungsmerkmal, das uns allenfalls die Pathologen und Rechtsmediziner streitig machen könnten. Manchmal schäme ich mich ein wenig, wenn ich auf dem Flur meinen internistischen Kollegen begegne, die täglich 40 Patienten visitieren und im Auge behalten, halbe Romane an Arztbriefen schreiben, den üblichen Stationskrawall aushalten, sich mit Angehörigen auseinander setzen und am Telefon Kunststücke vollbringen, vor denen jeder Event-Manager vor Neid erblassen würde.
Doch um eine Sache beneide ich meine Stationskollegen glühend: Den ständigen, uneingeschränkten Zugang zu Futter und Getränken. Ein erfahrener Kollege meinte einst zu mir: „Willkommen in der Anästhesie…hier lernst du den wahren Hunger kennen.“
Während ich noch grübelte, ob er wohl von Lernhunger und Wissensdurst gesprochen hatte, war besagter Kollege gänzlich unphilosophisch unterwegs. Was er mir sagen wollte war schlicht und ergreifend: Iss was du kriegen kannst, wann immer du die Gelegenheit dazu hast. Denn du weißt nicht, wann du das nächste Mal Kalorien in Reichweite hast. Wenn du im septischen Saal stehst, kommt ganz sicher keiner und löst dich ab. Und wenn mal wieder in allen Einleitungen gleichzeitig die Hütte brennt, kannst du dir deine Pause auch in die Haare schmieren.
Dazu sei gesagt: Mir ist völlig klar, dass auch die operierenden Kollegen stundenlang ohne Pause ausharren. Aber die haben immerhin ständig alle Hände voll zu tun. Ich stelle mir vor, dass die Mischung aus Adrenalin und dem widerlichen Barbecue-Aroma des Elektro-Kauters der beste Hunger-Killer der Welt ist.
Ich hingegen habe stundenlang Zeit, mir die Menüs der Woche auszumalen, Einkaufslisten zu schreiben, mir Rezepte auszudenken. Und meinem Magen beim Knurren zuzuhören.
Und wenn dann die Ablösung wie eine Erlösung kommt, ist maßvolle Nahrungsaufnahme kaum mehr möglich. Mit vor Heißhunger glänzenden Augen mampfe ich so viel eben gerade
reinpasst – denn wer weiß, wie lange diese Mahlzeit vorhalten muss.
Aber keine 20 Minuten, nachdem der fiese Hunger vertrieben ist, kommt mich ein weiterer ungebetener Gast besuchen: Die gemeine Fressnarkose.
Die Fressnarkose ist nicht nur empirisch dadurch bewiesen, dass sie jeder schon mal am eigenen Leib erfahren hat, sondern findet in der Neonatologie tatsächlich auch Anwendung: Vor schmerzhaften Eingriffen werden die Kleinsten der Kleinen mit Glucose gefüttert, um daraufhin friedlich in einen „Mir ist alles egal“-Zustand wegzudämmern.
In Frau Sandmanns Wahrnehmung sieht die Fressnarkose so aus: Der Bauch ist wohlig vollgefuttert, und die Augenlider verwandeln sich langsam in Blei. Das Hirn fühlt sich minderperfundiert und matschig an, und nichts auf der Welt wäre jetzt schöner als ein weiches, kuscheliges Sofa. Nicht umsonst habe ich kurz nach der Mittagspause ein gesteigertes Interesse an dem Geschnipsel meiner operativen Kollegen: Im Saal umherzuwandern und gelegentlich übers Tuch zu spicken bedeutet immerhin Bewegung und hält wach.
Aber das Schöne an der Fressnarkose ist: Gerade wenn man glaubt, es könne nicht mehr schlimmer werden, verschwindet sie so schnell wie sie gekommen ist. Und oft rückt dann auch der Feierabend in greifbare Nähe. Und an dieser Stelle des Tages will ich mit keiner anderen ärztlichen Disziplin mehr tauschen.
Beste Grüße
Frau Sandmann
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