Während meines Studiums hatte ich das Glück, einen großartigen Internisten kennen lernen zu dürfen. „Medizin ist der beste Beruf der Welt“, pflegte er zu sagen, „denn es ist alles ganz einfach. Für die meisten Diagnosen braucht man weder aufwändige Technik noch teure Geräte.
Benutzt einfach eure Sinne!“
Der Mann hat mich tief beeindruckt – und er hat Recht. Augen, Ohren, Nase und Tastsinn sollten das wichtigste Handwerkszeug eines Mediziners sein. Schließlich darf der klinische Aspekt nie in den Hintergrund geraten, egal was die Gerätediagnostik sagt.
Sinnesverwirrungen
In meiner tagtäglichen Bemühung, meine Sinne also von all den blinkenden Monitoren und Geräten loszureißen, und mich dem klinischen Aspekt des Patienten zu widmen, kam ich kürzlich ganz schön in die Bredouille. Inmitten einer schönen Narkose schlug einer meiner Sinne Alarm.
Es war meine Nase, die mir sagte: Irgendwie riecht es hier komisch.
Mein erster Gedanke war: Wiese! Es roch wie ein frisch gemähter Rasen.
In einem modernen OP-Saal im dritten Untergeschoss eines Gebäudes ist das natürlich völliger Unfug. Aber je intensiver ich einatmete, desto stärker wurde der Geruch. Ich war fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Mein zweiter Gedanke war: Narkosegas? Doch alle Schläuche waren fest konnektiert, der Cuff war dicht, und die Maschine zeigte kein Leck. Und Narkosegas riecht anders.
Vielleicht die Technik? Schmort da gerade ein Kabel durch? Schnüffelnd bewegte ich mich von Gerät zu Gerät, beschnupperte Warmtouch, Perfusoren, Hotline, Lichtquelle…und schließlich den Patienten selber. Ohne Erfolg. Aber der komische Geruch war immer noch da.
Unauffällig begann ich, an den Operateuren zu schnüffeln. Diese waren natürlich viel zu konzentriert um irgendetwas zu riechen, und die OP-Schwester war erkältet.
Selbst Lieblingspfleger Ludwig, ob dieser banalen Störung eher ungnädig gestimmt, meinte nur: „Was?! Ich riech nix…“, und zog wieder von dannen.
Des Rätsels Lösung
Irgendwann gab ich mich damit zufrieden, dass ich dem Geruch zwar nicht auf die Schliche kam, aber scheinbar auch keine unmittelbare Gefahr für den Patienten bestand, und so ließ ich es gut sein.
Bei der nächsten Narkose passierte es jedoch wieder. Zwischen all die vertrauten Gerüche nach Desinfektionsmittel, Elektrokauter-Barbecue und Operateur-Aftershave mischte sich die gemähte Wiese. Ich begann an meinen Sinnen zu zweifeln. Hatte ich zu viel Narkosegas eingeatmet?
War der verspritzte Tropfen Fentanyl von vorhin durch meine Haut diffundiert? Halluzinierte ich?
Eine komische Bewegung vor dem Fenster holte mich aus meinen Grübeleien. Ein Regen aus Blättern und Grashalmen wehte draußen vorbei. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Auf der Dachterrasse wurde gemäht und gegärtnert. Dort oben befindet sich auch die Zuluft-Ansaug-Anlage. So kam der Geruch nach frisch gemähtem Gras in meinen Saal und in meine Nase.
Und die Moral von der Geschichte? Such dir eine aus!
- Frau Sandmann hat doch keine Halluzinationen
- Es riecht wie eine gemähte Wiese? Vielleicht IST es eine gemähte Wiese!
- Für die Bayern unter uns: Komm in die Anästhesie – des is a gmahte Wiesn!
- Ein wenig philosophischer, und eingangs schon erwähnt: Vertraut euren Sinnen – die lügen nicht.
Herzliche Grüße,
Frau Sandmann
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