
Heute, am ersten Ambulanz-Tag meiner noch eher überschaubaren Anästhesisten-Karriere, wird mir wieder einmal bewusst, wieso ich dieses wundervolle Fach gewählt habe.
Patientenkontakt kann so schön sein. Und dann wieder so schrecklich. Und manchmal auch ganz schön schrecklich. Nach einem 10-Minuten-Telefoncrashkurs von Oberarzt Holzhammer zum Thema „Wie schmeiße ich die Prämedikationsambulanz“ lautet das Motto des heutigen Tages eindeutig: Friss oder stirb.
Ich entscheide mich fürs Fressen und beiße erstmal in meine Butterbrezel. Hunger haut schließlich den stärksten Narkosedoktor um.
Dann werfe ich mir elegant das Stethoskop um den Hals und betrete beschwingt das Untersuchungszimmer. Und blicke in 4 weit aufgerissene Augenpaare.
Auf der Liege befindet sich ein Rentner von stattlicher, süddeutscher Statur, der sich hoffnungslos in den EKG-Kabeln verheddert hat. Mit von der Partie sind Ehefrau, Sohn und Enkeltochter. In dem kleinen Kabuff wird es langsam ganz schön voll.
Nachdem ich mich als Narkoseärztin vorgestellt, Herrn Frankenwein aus dem Kabelsalat befreit und einen Blick auf das eher unerfreuliche EKG geworfen habe, kommt die obligatorische erste Frage seitens der Angehörigen: „Saachn se mal Frollain, sin sie ned a weng jung fürra Äzztin?!“
Da hilft nur noch sicheres Auftreten bei 1) Völliger Ahnungslosigkeit und 2) nun auch offensichtlich unpassendem Aussehen. In mir keimt eine neue Geschäftsidee: Paradoxes Botoxen für zu junge Ärzte. Ein paar Erfahrungsfalten hier, ein paar Sorgenfalten da – tun wir nicht alles für das Vertrauen unserer Patienten?!
Leider entwickelt sich das vertrauensvolle Ärztin-Patienten-Gespräch nach diesem Einstieg doch nicht ganz wie gewünscht. Herr Frankenwein beschäftigt sich damit, das Hemd wieder über seinem stattlichen Bauch zuzuknöpfen, während seine Gattin alle meine an ihn gerichteten Fragen beantwortet, und dabei bemerkenswert weit ausschweift.
Nachdem ich mich mühevoll durch alle Voroperationen und Vornarkosen bis zurück ins Jahr 1964 gekämpft habe, integriert sich der Sohn, alias Dr. Google, ins Gespräch, und beeindruckt mich mit haarsträubenden Halbwahrheiten aus den Tiefen des Internets, garniert mit Schauergeschichten von während der Operation erwachenden Patienten. Zum guten Schluss lässt er mich noch wissen, dass sein Vater auf keinen Fall „dieses Propofol“ bekommen möchte, denn daran sei ja bekanntlich schon Michael Jackson gestorben.
Noch bevor ich mir überlegen kann, wie ich Kollegen Google schonend beibringe, dass uns der Äther leider vor 45 Jahren ausgegangen ist, erreicht die Prämedikationsvisite ihren Höhepunkt: Enkelin Frankenwein hat es geschafft, ihren Finger in das Gestänge der Liege zu stecken…und steckt nun fest. Die Prioritäten verschieben sich augenblicklich. Kollege Google vergisst das Propofol, Frau Frankenwein redet nun statt auf mich auf ihre Enkelin ein, Herr Frankenwein leistet ohne weiteres Nachfragen die so ersehnte Unterschrift auf seinem Aufklärungsbogen, und ich befreie mit der Hilfe von ein wenig Lido-Gel den Finger der Enkelin.
Ich liebe mein Fach. Und Patientenkontakt kann so schön sein…aber am schönsten ist er, wenn die Patienten dabei friedlich schlafen.
Beste Grüße
Frau Sandmann
Bildnachweis: Another True Fiction via photopin (license)
Themen
- Sonstige