Sehr viele Jahre vor meiner Sandmann-Karriere (genauer gesagt: Im Kindergarten) hatte ich noch andere berufliche Ziele. Ich wollte Primaballerina werden. Und so verbrachte ich viele Stunden in rosa Tanzoutfits und hopste mit anderen kleinen Ballettratten um die Wette.
„Ballett ist sehr schwer, Kinder“, sagte unsere Tanzlehrerin immer, „aber wenn ihr alles richtig macht, sieht es so aus als wäre es kinderleicht!“.
Wie wir alle wissen, habe ich die Ballettschuhe noch rechtzeitig gegen OP-Schuhe getauscht, und bin heute stolz, ein Sandmann zu sein. Aber wie mir kürzlich klar wurde, gilt die Devise meiner alten Tanzlehrerin auch hier:
Wenn man alles richtig macht, sieht Anästhesie so aus, als wäre es kinderleicht.
So leicht, dass es keiner mitbekommt.
Unsere Zaubertricks vollbringen wir in einem Einleitungs-Kabuff, wo uns keiner sehen kann.
Wenn wir den Patienten OP-fertig servieren und uns danach still an seine Seite setzen, hat niemand gesehen, wie aufgelöst und aufgeregt der Patient im OP ankam, und wie viel Fürsorge und beruhigende Worte nötig waren, um ihm ein entspanntes Einschlafen zu ermöglichen.
Wie viele Schweißperlen geflossen sind, während wir einen Tubus in einen kaum überwindbaren Atemweg gepfriemelt, eine Nadel in einem Mini-Gefäß versenkt oder einen PDK durch eine Wirbelsäule mit völlig verknöcherten Bändern gemogelt haben, bleibt immer ein Sandmann-Geheimnis.
Wenn der Patient friedlich narkotisiert daliegt, denkt keiner daran, wie aufwändig das Prämedikationsgespräch war, wie langwierig die Aufklärung und wie beharrlich die Rückfragen der Angehörigen, bis dem Patient die Angst vor der Narkose im Allgemeinen oder dem Stimmband- und Zahnschaden im Speziellen wieder genommen war.
Doch wehe dem Sandmann, der den Patienten auch nur einmal während der OP pressen lässt, oder nicht alle 15 Minuten nachrelaxiert. Schon ist der ganze Anästhesie-Auftritt für die Tonne.
„Sie sitzen doch eh nur da und tun nichts, passen Sie halt mal auf!“, sagen die Blicke, die dann von unten nach oben übers Tuch geworfen werden.
Den ganzen publikumswirksamen Erfolg immer den Operateuren überlassen zu müssen, ist schon manchmal frustrierend. Aber gelegentlich gibt es auch Lichtblicke, und manchmal sogar ein Lob. Und zwar von denjenigen Patienten, die zu unseren Stammkunden gehören, und sich in der Ambulanz mit den Worten vorstellen: „Die letzte Narkose war super, so eine will ich diesmal unbedingt wieder haben!“
Sowas geht runter wie Öl. „Kein Problem“, sage ich dann. „Genauso machen wir es.“
Wir sind schließlich die Primaballerinas im OP.
Herzliche Grüße
Frau Sandmann
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