
Deutschland verfügt über eine herausragende medizinische Versorgung. Doch in letzter Zeit tauchen in den Medien immer wieder Vorwürfe auf, die sich auf unnötige Operationen beziehen. Aber was ist da wirklich dran und wie können sich Patienten gegebenenfalls davor schützen? Ärzte und Patienten äußern sich dazu.
Was sind unnötige Operationen?
Ohne Operation würden täglich Menschen sterben. Sie bedeuten nicht nur eine lebensrettende und lebenserhaltende Maßnahme, sondern können zur Vorbeugung von Verschlimmerungen dienen sowie bei Patienten mit bestimmten Erkrankungen zur Schmerzfreiheit oder verbesserter Lebensqualität führen. Unter diesen Aspekten treffen Chirurgen die Entscheidungen, ob eine Operation für den Patienten als medizinisch notwendig betrachtet werden kann.
Unnötige Operationen sind solche, bei denen oben genannten Aspekte auch durch weniger risikobehaftete sowie weniger aufwendige Therapien erzielt werden können. Unnötige Operationen sind auch dann gegeben, wenn kein positiver Effekt zu erwarten ist und/oder auf wissenschaftlicher Ebene keine sinnvoll erforderliche Operation gewährleistet ist – sprich, die Ärzte davon ausgehen, dass eine Operation nicht direkt zum gewünschten Ziel führen wird, beziehungsweise beim Ausgang einer Operation aufgrund fehlender wissenschaftlicher Grundlagen eine sinnlose/überflüssige Operation zu vermuten ist.
Wenn dies der Fall ist, sind Ärzte theoretisch dazu angehalten, betroffene Patienten nicht dem Risiko auszusetzen, das jede Operation mit sich bringt. Dies bedeutet: derartige Operationen sind nicht nur unnötig, sondern können im schlimmsten Fall sogar negative Gesundheitsprobleme für den betroffenen Patienten mit sich bringen.
Vorwürfe betroffener Patienten
Klaus Hartmann klagt seit Monaten über starke Schmerzen in der Schulter. Die Schmerzen strahlen bis in die Hand und werden unerträglich. Der Orthopäde diagnostiziert eine Bandscheibenschädigung in der Halswirbelsäule und injizierte verschiedene Medikamente. Sechs Monate Behandlung beim Physiotherapeuten brachten keine Schmerzlinderung, so dass die einzige Möglichkeit zur Schmerzlinderung in einer Operation nach Anraten des Orthopädie-Chirurgen herbeigesehnt wurde. Bei dieser sollte die defekte Bandscheibe gegen eine künstliche ersetzt und der eingeklemmte Nervenkanal wieder freigelegt werden.
Nach der Operation vergingen nur drei Monate, bis im Daumen erneut ein Taubheitsgefühl entstand und der Patient wieder sehr starke Schmerzen hatte. Anderthalb Jahre später sind die Schmerzen größer als je zuvor, die Operation hat den Zustand also verschlimmert. Nun könnte man denken, der Patient hat einfach Pech gehabt. Wissenschaftliche Studien belegen jedoch, dass es oftmals ausreichend ist, Nervenwurzeln durch Krankengymnastik und Schmerzmittel sowie Spritzen zu beruhigen, um eine Besserung zu erreichen.
Fakt ist dennoch, das seit Jahren immer mehr teure Wirbelsäulen-OP’s durchgeführt werden:
Claudia Strecker ist ambitionierte Joggerin. Zunehmend machten sich Probleme an ihrem Knie bemerkbar. Es schwoll an, wurde heiß und rötet sich. An Joggen war schon lange nicht mehr zu denken, denn das Knie ließ sie selbst das langsame Treppensteigen nur noch mit Schmerzen ertragen. Nach einer Kniegelenkspiegelung wurde eine Knorpelabnutzung diagnostiziert. Es waren unebene Flächen entstanden, die bei der Bewegung des Kniegelenks zu Reibungen führten und schmerzhafte Entzündungen hervorriefen. Kurzum wurde unter dem Aspekt, ein künstliches Kniegelenk zu umgehen, eine Knorpelglättung in einer Operation ärztlich angeraten.
Nur ein Jahr nach der Operation befand sich Patientin Strecker erneut auf dem OP-Tisch – die Knorpelglättung hatte nicht den gewünschten Erfolg einer langfristigen schmerzfreien Kniebeweglichkeit gewährleistet, wie “versprochen” wurde. Nun erhielt sie doch ein künstliches Kniegelenk. Die erste Operation hätte sie sich gern erspart, zumal sie als Selbstständige einen zusätzlichen vermeidbaren Verdienstausfall hinnehmen musste und auch bei ihr, wie bei jeder anderen Operation, Risiken bestanden. Frau Strecker und auch einige andere Ärzte sind sich sicher: die Operation der Knorpelglättung war unnötig.
Kernproblem: Operationsstatistiken zu selten verfügbar und genutzt
Weltweit werden rund 230 Millionen Operationen im Jahr durchgeführt. Jedoch nur in ca. 25 % aller chirurgischen Eingriffe beziehen sich Operateure auf die Erfahrungen aus randomisiert kontrollierten Studien. Bei diesen Studien wird eine Therapie wie mit Medikamenten oder eine bestimmte Operation an einer Versuchsgruppe wirklich durchgeführt und mit einer Kontrollgruppe verglichen, bei der keine Operation durchgeführt wird, der jeweilige Patient jedoch gesagt bekommt, er sei operiert worden (Placebo-OP). Dadurch kann geprüft werden, ob Operationen wirklich zu einem Behandlungserfolg führen.
Alle anderen Eingriffe, also die überwiegende Mehrheit basieren auf den Erfahrungen der Chirurgen, falls diese in dem jeweiligen Patientenfall vorhanden sind, sowie dessen “Fingerfertigkeit”.
Problem Patientenaufklärung
Jeder Patient muss vor einem chirurgischen Eingriff ausführlich über die Ausführung, das erwünschte Ziel der Operation sowie die Risiken in Bezug auf alle möglichen Komplikationen hin aufgeklärt werden. Zumindest hat er ein entsprechendes Formular vor einer geplanten Operation zu unterschreiben, indem er seine Kenntnisnahme darüber bestätigt und sich mit der Operation einverstanden erklärt.
Oftmals sind Patienten viel zu aufgeregt oder nicht genug informiert, um wirklich alles bis ins letzte Detail zu verstehen – manchmal verstehen sie die medizinischen Ausdrücke nicht, deren sich Chirurgen und/oder Anästhesisten vielfach bedienen und fragen aus Schüchternheit nicht nach. Verschwiegen wird in der Regel, wenn der Ausgang der Operation rein auf der Hoffnung des Chirurgen basiert. Dass eine Operation als unnötig eingestuft werden könnte, verschweigen offensichtlich ebenfalls einige Operateure.
Wenn Abrechnungsleistungen dem Patientenwohl vorangehen
Viele Kliniken und auch Arztpraxen sind heute marktwirtschaftliche Unternehmen. Sie müssen Geld verdienen und Gewinnen für die Anteilseigner erzielen. Operationen fördern Gewinne, da hohe Kosten entstehen, die durch ihre Abrechnungsmöglichkeit Geld in die Kasse spülen.
Kliniken und Ärzten eine Profitgier zu unterstellen, ginge zu weit, aber Fakt ist vor allem bei Chirurgen, die über Belegbetten verfügen, dass sie mehr daran verdienen, wenn eine Operation durchgeführt wird, als wenn darauf verzichtet wird. Wenn danach sogar eine zweite oder sogar dritte Operation erfolgen muss, wird noch mehr Geld verdient. Unter dem monetären Aspekt animiert dies nicht dazu, direkt die Operation mit der größten Heilungschance durchzuführen.
Was ist zu ändern?
Ähnlich wie bei Arzneimitteltherapien, fordern mittlerweile zahlreiche Chirurgen dazu auf, klinische Studien durchzuführen, aus denen hervorgeht, welche Operationen bei welcher Erkrankung/in welchen Situationen unnötig oder sinnvoll erscheinen. Bei Medikamenten ist dies seit vielen Jahren Pflicht.
Dort, wo keine vergleichbaren Operationen zur Studienzwecken dienen können, könnten beispielsweise Schein-Operationen, ähnlich wie in Medikamentenwirkstoff-Studien das Placebo, eingesetzt werden. Viele Chirurgen haben bereits begonnen, die Erfolge und Misserfolge ihrer chirurgischen Eingriffe zu recherchieren, die Ergebnisse zu sammeln und für andere Chirurgen zugängig zu machen. Nur auf diese Weise versprechen sie sich das Vermeiden von unnötigen Operationen in der Chirurgie.
Was können Patienten tun?
In erster Linie sollten sich Patienten ausführlich über die geplante Operation, aber auch mögliche Alternativen informieren. Wird aufgrund Nutzung des medizinischen Fachjargons nicht alles oder gar nichts verstanden, ist unbedingt auf eine verständliche Erklärungsweise zu pochen.
Bleiben Fragen offen, sind sie zu stellen und keine Rücksicht auf eventuellen Zeitdruck des Arztes zu nehmen. Schließlich geht es um nichts Wichtigeres als die eigene Gesundheit. Vor allem sollten Fragen nicht fehlen, die auf die persönlichen Erfahrungswerte des Chirurgen und damit verbundenen Erfolgen der geplanten Operation zielen. Ebenso sinnvoll ist die Frage nach eventuellen weiteren Operationen, die möglicherweise erst zum gewünschten Erfolg führen könnten.
In vielen Fällen ist eine zweite ärztliche Meinung von Vorteil, um sich ein besseres Bild über die Notwendigkeit eine Operation machen zu können. Sollten zwei unterschiedliche ärztliche Meinungen vorhanden sein, empfiehlt sich, den Chirurgen damit zu konfrontieren, bevor sich Patienten für oder gegen die geplante Operation entscheiden.