
Zeit zum „Behandeln“
Drei Wochen lang täglich Zeit für eine Patientin und ihr Kind – ein „Luxus“, meinte die Leitende Ärztin der Mutter-Kind-Klinik im thüringischen Steinheid im Interview.
Jetzt endlich kann sie „Patientinnen und ihre Kinder tatsächlich nach ihrem ärztlichen Anspruch behandeln.“ Träger der Klinik, in der dieser „Luxus“ möglich ist, ist die AWO SANO gGmbH
AWO … die Abkürzung ist vielleicht bekannt: Arbeiterwohlfahrt. Bei dem Wort denken manche an Armenfürsorge, an das Sozialamt und Jugendamt oder an Kindertagesstätten. Falsch sind diese Assoziationen nicht, aber entweder historisch überholt (Armenfürsorge) oder sie decken nur einen Teil der Wirklichkeit ab.
Neben den beiden konfessionellen Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie steht die AWO als der dritte große Verband mit dem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal religiöser/weltanschaulicher Neutralität.
Über 20 Mutter-Kind-Kliniken gibt es bundesweit in Trägerschaft von Verbandsgliederungen der AWO. Oft sind die Träger eingetragene Vereine – immer häufiger aber auch gemeinnützige GmbHs.
Mutter-Kind-Kliniken gibt es seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts – seit einigen Jahren sind auch Väter gern gesehene Patienten einiger dieser Vorsorgekliniken.
Waren die Mutter-Kind-Kliniken „früher“ eine Domäne gemeinnütziger Träger, müssen sie sich heute gegen privatwirtschaftliche Träger und Kliniken in Trägerschaft der Krankenkassen behaupten.
Diese verschärfte Wettbewerbssituation haben etliche Kliniken in gemeinnütziger Trägerschaft nicht überlebt – die Kliniken der AWO SANO dagegen sind aus dieser Situation gestärkt hervorgegangen. Und das hat Gründe:
Es sind entweder Neubauten oder die Gebäudesubstanz wurde aufwendig modernisiert. Standorte der vier Kliniken der AWO SANO liegen in bevorzugten Urlaubsregionen.
Arbeiten wo andere Urlaub machen ?
Es sind aber nicht diese Gründe, die Ilka Granzow, Leiterin der Mutter-Vater-Kind-Klinik im Ostseebad Rerik sagen lassen: „Auf dieser Stelle habe ich meine Berufung gefunden!“
Die Betriebswirtin und Diplom-Sportwissenschaftlerin leitet die Klinik im Rahmen der für diesen Kliniktypus typischen „Doppelspitze“ gemeinsam mit einem Facharzt.
Manche Ärztinnen und Ärzte mögen sich mit dieser Konstruktion nicht anfreunden, weiß Ilka Granzow aus etlichen Bewerbungsgesprächen.
Aber sie hat auch die andere Erfahrung gemacht: Wer sich einmal auf diese Konstellation eingelassen hat, weiß den damit verbundenen Nutzen sehr bald zu schätzen.
Die fachmedizinische „Hohheit“ und Verantwortung wird dem Arzt in der Mutter-Kind-Klinik keineswegs bestritten. Dafür gewinnt er/sie in diesem Umfeld die Möglichkeit, ungewöhnlich breite Erfahrungen in allgemeinmedizinischer Sicht zu sammeln und an der konzeptionellen Weiterentwicklung der Klinik mitzuwirken.
„Denn das erwarten wir von unseren ärztlichen Kolleginnen und Kollegen“, meint Ilka Granzow, die genau diese Gestaltungsmöglichkeiten über alle Maßen schätzt.
In Rerik – wie überhaupt in allen Kliniken der AWO SANO – arbeiten die Teams seit 2012 nach dem „Bezugstherapeutenkonzept“:
Je nach Indikation wird jeder/jedem Patientin/Patienten unmittelbar zum Beginn der Kur ein/e Bezugstherapeutin zugeordnet. Ob dies der Ärzt/die Ärztin, der Psychologe oder die Sozialpädagogin wird, hängt von der Indikation und dem Behandlungsplan ab. Innerhalb des Teams sind alle Beteiligten jederzeit „im Bilde“ – für die Patientin aber sorgt diese Arbeitsweise für Kontinuität und Vertrautheit durch den gesamten Kurverlauf hindurch.
Eine klassische Rollenzuschreibung für Ärzte ist das nicht und Ilka Granzow weiß sehr wohl, dass die Arbeit in einer Mutter-Vater-Kind-Klinik erst mal nicht im konventionellen Karrierebild „vorgesehen“ ist.
Alternative Karrierewege
„Bei uns“, sagt sie, „fühlen sich Ärztinnen und Ärzte wohl, die schon einige Jahre Praxis- oder Klinikerfahrung hinter sich haben, die eine fachliche Neuorientierung und eine mittel- und langfristige Anstellungsperspektive suchen. Und vor allem solche, denen an einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelegen ist.“ Der hohe Freizeitwert des Klinikstandortes mag dann durchaus auch als Entscheidungskriterium eine Rolle spielen. …
Dass die Arbeit in der Mutter-Vater-Kind-Klinik auf den ersten Blick nicht als besonders karriereförderlich angesehen ist, ist Ilka Granzow bewusst. „Auf den zweiten Blick aber wird erkennbar, dass dieses Arbeitsumfeld für diejenigen interessant ist, die sich fragen ‘In welche Richtung will ich mich als Arzt oder Ärztin fachlich noch entwickeln‘?“
Dabei sind mit „fachlich“ nicht nur „rein medizinische“ Aspekte gemeint, sondern auch ein Verständnis von der Arzt-Patienten-Beziehung, in dem Wert gelegt wird auf wertschätzende Interaktion mit den Patienten und ihren Kindern sowie auf den Blick auf die je individuellen, sozialen Lebensumstände. Auf „Zeit zum Behandeln“ eben !
Der Arbeitgeber AWO SANO wird die neuen Kolleg/innen bei dieser Entwicklung und fachlicher Fortbildung unterstützen. Qualitätszirkel der Ärzte/Ärztinnen aus den AWO SANO-Kliniken stellen sicher, dass der ärztliche Anspruch nicht zu kurz kommt – und im Klinikalltag wird der Unterschied zwischen „gemeinnützig“ und „privatwirtschaftlich“ erlebbar: Kurze Wege, flache Hierarchien und eine Unternehmenskultur, die zu Mitwirkung und Engagement einlädt – ja, dies ausdrücklich erwünscht.
Die AWO SANO wurde im Jahr 1995 im Zuge des Wiederaufbaus der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Mecklenburg-Vorpommern als eine gemeinnützige GmbH gegründet. Haupttätigkeitsfelder der AWO SANO sind Rehabilitations- und Vorsorgeangebote für Mütter und Kinder, Angebote der gemeinnützigen Familienerholung und Bildungsangebote mit den Schwerpunkten Pflege und Familie. Die AWO SANO unterhält Kliniken und Einrichtungen in verschiedenen Bundesländern. Das Leitbild der AWO SANO ist angelehnt an die Grundsätze der AWO. Dazu gehören u.a. ein ungehinderter Zugang zu Gesundheitsleistungen, die Möglichkeit Bildung zu erwerben und die gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigungen.
Autor: bruno neurath-wilson
Titelmotiv: In der Physiotherapie der Mutter-Vater-Kind-Klinik Rerik; Foto: van Ryk
Portrait von Ilka Granzow; Foto: Ria Mitschrick
Kurzvita von Ilka Granzow
- 1989 – 1992 Studium Lehramt Sekundarstufe 2 Sport/Biologie an der Universität Rostock,
- 1992 – 1995 Studium der Sportwissenschaft an der Universität Hamburg,
- 2000 – 2004 berufsbegleitendes Studium zur staatlich anerkannten Betriebswirtin an der Schule für Wirtschaft und Verwaltung Schwerin,
- 1995 – 2008 Leitende Sporttherapeutin in der Mutter/Vater-Kind-Klinik Ostseeklinik Poel,
- seit 2018 Klinikleiterin Klinikverbund Ostsee (Mutter/Vater-Kind-Klinik Rerik und Mutter-Kind-Klinik „Strandpark“ Kühlungsborn).