Im Zuge der Corona-Pandemie musste man die gewohnten Abläufe in Deutschlands Krankenhäusern gezwungenermaßen innerhalb kürzester Zeit umorganisieren – hin zu mehr Agilität. Man veränderte langjährig bewährte Strukturen oder löste sie auf. Neue Prozesse musste man kurzfristig implementieren. Eine aktuelle Umfrage der Business Academy Marburg, der Frankfurter Akademie für neue Arbeitskultur und neue Führung sowie der Steinbeis-Hochschule kam nun zu dem überraschenden Ergebnis, dass viele dieser Struktur- und Prozessänderungen beim Personal so gut ankamen, dass die Pandemie womöglich sogar als erfolgreicher Testlauf für flexiblere, agilere Krankenhäuser der Zukunft bezeichnet werden kann. Die Beschäftigten bewerten die flexibleren Abläufe sogar als so positiv, dass sie diese gern als Dauerzustand sehen würden.
Die Kernthese des agilen Krankenhauses erhöht die Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit der einzelnen Mitarbeitenden. Dies geht zugunsten einer kürzeren Entscheidungskette, was wiederum ein schnelleres Handeln ermöglicht. Dies kommt im Idealfall sowohl den Patienten zugute, die schneller behandelt werden, als auch den Mitarbeitenden, die sich wertgeschätzt fühlen.
Die Studie zur Agilität und ihre Ergebnisse
Die Befragung führte man vom 19. März bis 11. Mai 2020 mit 117 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch, die man nach ihren Wahrnehmungen bezüglich der veränderten Arbeitssituation während des ersten Corona-Lockdowns befragte. Die Querschnittbefragung erfasste die folgenden Berufsgruppen in den entsprechenden Anteilen:
- Pflegerinnen und Pfleger: 73 Prozent
- Verwaltungsmitarbeitende: 10 Prozent
- Sonstige Mitarbeitende (z.B. Reinigungspersonal, Rezeptionspersonal etc.): 8 Prozent
- Ärztinnen und Ärzte: 6 Prozent
- Keine Angabe: 2 Prozent
Die Ergebnisse der Studie
Allgemein baute man Bürokratie ab, gestaltete Prozesse flexibler und verbesserte die interne Kommunikation. Dies sei überraschender Weise gleichzeitig mit einer Zunahme der gegenseitigen Wertschätzung trotz der schwierigeren Rahmenbedingungen einhergegangen. Eine deutliche Mehrheit der befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewertete diesen Wandel als positiv. Vor allem Veränderungen in den Abläufen hin zu mehr Agilität und Selbstorganisation wurde als angenehm und wünschenswert bewertet. Außerdem habe die Entscheidungsgeschwindigkeit enorm zugenommen, was ebenfalls positiv bewertet wurde. In den wenigen Bereichen, in denen die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung ging, bewerteten die Beschäftigten dies im Gegenzug überwiegend negativ.
Patrick Merke, Co-Autor der Studie, interpretiert diese Ergebnisse im Fazit so, „dass sich die Beschäftigten offensichtlich mehr Partizipation, schnellere Entscheidungen und mehr selbstbestimmtes Agieren im Sinne von weniger Hierarchieabhängigkeit wünschen.“
Die Ergebnisse der Studie in Zahlen
- 57 Prozent der Befragten waren in der Gestaltung der arbeitsorganisatorischen Abläufe und Prozesse nach eigener Angabe anpassungsfähiger und agiler als vor Corona.
- Nur 28 Prozent gaben an, in dieser Zeit weniger agil gewesen zu sein.
- 52 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Eigenverantwortung zugenommen habe.
- Nur 20 Prozent nahmen ihre Eigenverantwortung als reduziert wahr.
- 59 Prozent der Befragten gaben an, dass nach ihrer Ansicht in der Corona-Krise Entscheidungen schneller gefällt und umgesetzt wurden als zuvor.
- Nur 27 Prozent nahmen die Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen als langsamer wahr als vor der Pandemie.
Die Bewertung des Studienergebnisses
Die Corona-Pandemie war vor allem für Beschäftigte im Krankenhaussektor physisch und psychisch anstrengend. Das Pflegepersonal wurde überdurchschnittlich hoch belastet. Das trotz all dieser Widrigkeiten dennoch durchgehend positive Feedback zeige nach Patrick Merke von der Frankfurter Akademie für neue Arbeitskultur und neue Führung, der Co-Autor der Studie ist, einen klaren Trend, wonach Krankenhäuser eine Art „Verbesserungs-Hattrick“ geschafft hätten: Sie seien flexibler und schneller geworden und hätten ihren Beschäftigten zusätzlich mehr Verantwortung überlassen. Diese erhöhte Anpassungsfähigkeit sowie eine Zunahme an Eigenverantwortung, die noch dazu mit schnelleren Entscheidungen einhergeht, seien eindeutige Merkmale selbstorganisierender Unternehmen. Merke bewertet diese Entwicklung positiv. Er sagt: „Durch selbstorganisierte Strukturen und Teams wird die Arbeit in einem Krankenhaus interessanter und vor allem attraktiver.“
Dr. Ruth Weber, Gesundheitswissenschaftlerin am Steinbeis-Transfer-Institut Marburg, möchte diese Ergebnisse jedoch explizit nicht als einen Siegeszug der Agilität und Selbstorganisation in Krankenhäusern verstanden wissen: „Dafür sind die Ergebnisse unserer Umfrage nicht eindeutig genug, denn wir haben auch Bereiche gefunden, die auf weniger Agilität und Selbstorganisation deuten.“
Auch Marie-Luise Koch, Leiterin der Business Academy Marburg, sieht in dem Ergebnis der Befragung ein indirektes Signal an die Personal- und Organisationsentwicklung in Krankenhäusern, die von der Corona-Krise angetriebenen Entwicklungen positiv zu nutzen und in langfristige Veränderungen umzuarbeiten: „Und dafür bedarf es zum einen der Bereitschaft auf allen Hierarchie-Ebenen und in allen Berufsgruppen. Zum anderen bedarf es einer systematischen Entwicklung der elementaren Kompetenzen sowohl auf Seiten der Führungskräfte als auch auf Seiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.“
Doch die Umsetzung dieser Wünsche sollte nicht das zufällige Ergebnis einer Pandemie sein. Vielmehr sollte sie ein bewusstes Ziel aller Beteiligten im Krankenhaus sein.
Die Uniklinik Schleswig-Holstein als praktisches Beispiel für Agilität
Das Change-Management-Team des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) hat seit April 2018 in einer Studie untersucht, welche Chancen agile Ansätze und Methoden im Krankenhaus haben und wie sich dadurch in Zeiten des Fachkräftemangels sowie zunehmender Ökonomisierung neue Chancen ergeben können. Das Team befragte ärztliche Führungskräfte zu ihrer Wahrnehmung verschiedener Merkmale agiler Managementmethoden. Bei dieser Umfrage befanden die Befragten, dass sich agile Prinzipien nicht mit klinischen Prozessen vereinbaren ließen. Im selben Atemzug wurden dieselben agilen Ansätze jedoch in der Theorie als positiv und zukunftsorientiert beurteilt. Vor allem im Bereich der Mitarbeitermotivation und -wertschätzung sowie bei der Förderung von Kreativität und dem Wissensaustausch sahen die Befragten großes Potenzial.
Diese zweischneidige Wahrnehmung verdeutliche nach Ansicht des Change-Management-Teams des UKSH, dass das Modell des agilen Krankenhauses situations- und kontextabhängig zu bewerten ist. Außerdem könne man es nicht in jedem klinischen Bereich rückhaltlos anwenden. Darüber hinaus erhielt das Change-Management-Team eine Vielzahl von praktischen Vorschlägen der Ärzteschaft. Die besagten, wie das Maß an Agilität in einem Krankenhaus positiv unterstützt werden könnte.
Bedürfnisse der Mitarbeiter respektieren
Unter den ärztlichen Führungskräften zeigte sich zu Beginn der Befragung, dass grundsätzlich eine hohe Akzeptanz für das Modell des agilen Krankenhauses vorhanden ist. Diese zunächst positive Einstellung reduzierte sich jedoch dramatisch, je länger die agilen Prozesse tatsächlich durchgeführt wurden. Und das, bei gleichzeitiger Nichtbeteiligung (keine Befragung, keine Input-Abnahme, keine Akzeptanz von Verbesserungsvorschlägen) der Betroffenen. Dies unterstreicht, dass die Einführung agiler Strukturen nur dann gelingen kann, wenn die betroffenen Mitarbeiter angemessen beteiligt, befragt, aktiv eingebunden und ihre Bedürfnisse respektiert werden.
Das Ergebnis macht ferner deutlich, dass es neben der Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur praktischen Implementierung des agilen Krankenhauses zweifelsfrei einer systematischen und strukturierten Herangehensweise bedarf. Als Empfehlung aus der Studie bildete sich eine These heraus. Diese sagt, dass man unbedingt regelmäßige Gesprächsformate zum bereichsübergreifenden Austausch etablieren sollte. Damit kann man erfolgreich die Potenziale höherer Autonomiegrade für Kliniken erproben.
Fazit: Agilität verlangt ein neues Rollenverständnis
Das agile Krankenhaus kann man nicht erfolgreich implementieren, ohne alle Mitarbeitenden daran zu beteiligen. Insbesondere die Führungskräfte und Verwaltung sind unverzichtbar. Man braucht sie, um erfolgreich ein generell neues und primär auf Eigenverantwortung und gegenseitige Unterstützung setzendes Rollenverständnis zu entwickeln. Ein solcher Entwicklungsprozess kann nicht über Nacht entstehen, auch nicht in der Ausnahmesituation einer Pandemie. Es gilt daher vielmehr, behutsam über einen Zeitraum von Monaten und vielleicht sogar Jahren hinweg, die Mitarbeitenden durch gezielte Schulungen auf die neuen Anforderungen vorzubereiten und dabei deren Feedback abzufragen, ernst zu nehmen und umzusetzen.